Der Krieger und der Prinz
Gesang endete, denn nun war ihr Zauber vollständig gewoben.
Ohne hinzuschauen, wusste Albric, dass die Augen der Dornenlady von dem gleichen weißen Nebel erfüllt waren, den sie heraufbeschworen hatte. Er hatte sie schon früher diese Magie wirken sehen; er verspürte keinen Wunsch, sie abermals zu beobachten. Also schlug er mit den Zügeln leicht auf den Hals seiner Stute und lenkte sein Pferd zurück auf die Straße.
Hinter sich hörte er den Schattenschrei.
Einige Zeit später kehrte die Dornenlady auf die Straße zurück. Stroh und vom Wind verwehte Blätter hafteten an dem weichen, schwarzen Tuch ihrer Roben; es mochten auch Fetzen trockener, toter Haut darunter sein. Er versuchte, nicht allzu genau hinzusehen. Dornenlady Severine war an sich schon beunruhigend genug.
Sie mochte einstmals eine schöne Frau gewesen sein. Ein Anflug dieser Schönheit war noch vorhanden, so in ihrer schlanken Gestalt oder der Anmut ihrer Bewegungen. Aber bei allem anderen schien es, als habe sie sich eigenhändig daran gemacht, mit einem Messer jede Erinnerung an Schönheit aus ihrer Gestalt herauszuschneiden.
Ihr silbernes Haar war zu beiden Seiten des Schädels rasiert, sodass lediglich ein langer Schopf verblieben war, der wie die Mähne eines Pferdes über die Mitte ihres Kopfes floss. Auf der rasierten Haut waren weiße Narben geheimnisvoller Runen zu erkennen, die ihren kahlen Schädel in seltsamen Mustern bedeckten. Manch einer sagte, die Dornenlady habe diese Male eigenhändig in ihre Haut geritzt. Albric hielt das durchaus für möglich.
Severine fehlte das linke Auge. In seiner wulstigen Höhle glomm ein glitzernder, eisblauer Kristall, den bleiche Narben wie ein Spinnennetz umgaben. Ringfinger und kleiner Finger ihrer rechten Hand fehlten ebenfalls – oder zumindest war das Fleisch daran verschwunden. Die Knochen waren gesäubert, geschliffen und fixiert worden, die Gelenke mit glänzendem Silber miteinander verschmolzen.
Es hieß, die Dornenlady Severine habe während ihrer Ausbildung außerordentlich gute Leistungen gezeigt und stehe hoch in der Gunst der Spinne. Albric fragte sich, was von jenen übrig war, die schlechte Leistungen zeigten.
Keiner dieser Gedanken spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. Ein langes Leben im Dienst der Burg hatte ihm große Erfahrung darin verliehen, seine Meinung für sich zu behalten.
»Nun?«, fragte er, als sie wieder auf ihre dürre, graue Stute stieg.
»Sie hat das Baby einem Mann namens Brys Tarnell gegeben. Einem Ritter in Sir Galefrids Diensten.«
»Er ist kein Ritter.« Albric schnaubte. »Er ist ein Emporkömmling und Söldner, dem es zufällig im vergangenen Jahr gelungen ist, den Nahkampf-Wettbewerb zu gewinnen. Ich kenne den Mann. Man mag ihm Sporen und ein Medaillon gegeben haben, aber ein Ritter ist er nicht.«
Severine zuckte die Achseln und zog sich die Kapuze über den Kopf, sodass das schwarze Tuch einen Großteil ihres seltsamen Aussehens verhüllte. Der blaue Kristall ihres linken Auges glänzte allerdings noch immer im Schatten dieser Kapuze. »Sei es, wie es sein mag. Er hat das Kind mitgenommen und sie zum Sterben zurückgelassen.«
»Überrascht mich überhaupt nicht.«
»Ist er ein loyaler Mann? Wo würde er das Kind hinbringen?«
»Er ist loyal gegen sich selbst und gegen jeden Mann, der ihn bezahlt – und der Mann, der ihn bisher bezahlt hat, ist tot. Er würde hingehen, wo immer er den größten Gewinn vermutet.«
»Wo wäre das?«
Albric dachte über die Frage nach. »Bullenmark, würde ich meinen. Das Baby ist nur so viel wert wie sein Rang, also sollte er sich einen Ort aussuchen, wo es etwas zählt. Es gibt keinen Grund, in Langmyr zu bleiben. Seines Wissens nach sind die Langmyrner die Mörder. Soll er ihnen etwa das Baby bringen, damit sie das Gemetzel vollenden können? Um dann wahrscheinlich mit überschwänglichem Dank und einem Messer in die Rippen entlohnt zu werden? Wenn er nach Seewacht geht, zu den Verwandten seiner Mutter … Aber das ist eine lange Reise für ein Baby, und der Winter steht bevor. Bullenmark ist näher und sicherer. Ich würde mich dorthin aufmachen.«
»Es sei denn, Ihr würdet Verrat wittern«, bemerkte Severine leise.
»Ja. Es sei denn, ich würde Verrat wittern. Aber es gibt keinen Grund, warum er das tun sollte.«
»Ein Mann, der den Nahkampf-Wettbewerb gewinnt, ist wahrscheinlich vorsichtig«, murmelte sie. »Aber eine bessere Annahme haben wir nicht. Welche Straße würdet Ihr dorthin
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