Der Krieger und der Prinz
vielleicht auch seiner Mutter Sohn, zu Lord Ossarics Entzücken und zum Unglück des Reiches.
Albric war Lady Nerissa, Galefrids Mutter und Lord Ossarics erster Frau, niemals begegnet. Ein Winterfieber hatte sie dahingerafft, lange bevor Albric nach Bullenmark gekommen war. Er wusste jedoch, dass Sir Ossaric sie geliebt hatte und zutiefst um sie trauerte. Obwohl der Lord sich aus Gründen der Klugheit und der Politik abermals vermählt hatte, war es ihm niemals gelungen, auch seine zweite Frau zu lieben. Es war über zwanzig Jahre her, dass Lady Indoiya nach Bullenmark gekommen war. Albric war damals ein junger Ritter gewesen, mit Flaum auf den Wangen und mehr als ein wenig verliebt in diese winzige, zerbrechliche Dame. Sie hatte die blassen Farben des Nordens gehabt, mit Wimpern, die so hell und so lang gewesen waren, dass sie die Welt hinter einem Schleier aus Schnee zu beobachten schien. Mit hoher Stimme und feinen Knochen war Lady Indoiya so zart gewesen wie ein Geschöpf aus Glas. Albric hatte sie angehimmelt.
Im Gegensatz zu Lord Ossaric. Er war niemals grausam zu ihr gewesen, aber auch nicht freundlich; er tat ihr gegenüber seine Pflicht und ignorierte sie ansonsten. Als Lady Indoiya bei dem Versuch, ihm eine Tochter zu schenken, starb, trauerte Lord Ossaric öffentlich an ihrem Scheiterhaufen, und dann war die Angelegenheit für ihn erledigt. Er hatte zwei Söhne; das genügte. Er heiratete nicht noch einmal, und er beachtete herzlich wenig den Sohn, den seine zweite Frau ihm geboren hatte.
Albric, der niemals aufgehört hatte, seine bleiche Dame zu lieben, und Lord Ossaric die Vernachlässigung dieser Frau niemals verziehen hatte, nahm den Knaben selbst unter seine Fittiche.
Er hatte sich niemals angemaßt, Leferic wie einen Sohn zu behandeln. Niemals. Damit hätte er seine Befugnisse überschritten. Aber während er über die Jahre hinweg den Mann beobachtete, zu dem Lady Indoiyas Kind wurde, verspürte er dennoch einen Anflug von Stolz.
Nein, Leferic war niemals ein Krieger gewesen. Aber er konnte ein Lord sein. Als Leferic daher mit dem Plan für Galefrids Ermordung zu Albric gekommen war, hatte der Ritter sein Unbehagen hinuntergeschluckt und sich zur Hilfe bereiterklärt. Loyalität und Liebe ließen nichts anderes zu.
Albric hatte auch sein Unbehagen über die Dornenlady hinuntergeschluckt, obwohl er daran fast erstickt wäre. Am Ende jedoch hatte das Pflichtgefühl den Sieg davongetragen. Die erste Pflicht eines Ritters galt seinem Lord, und Albrics wahre Loyalität hatte immer Lady Indoiya und ihrem Sohn gegolten, niemals Lord Ossaric. Seine zweite Pflicht war, den Frieden und die Sicherheit seines Reiches zu gewährleisten. Galefrids Entfernung war ein Teil dieser Pflicht gewesen, Dornenlady Severine, so sehr sie ihm zuwider war, lediglich ein weiterer Teil davon.
Trotzdem, als er sich mit ihr allein in dem toten Dorf aufhielt, klapperten Albric die Zähne. Er wollte diesen Auftrag hinter sich bringen. Wäre es um irgendjemand anderen als Leferic gegangen, hätte er überhaupt nie zugestimmt.
Sie sang über dem Leichnam. Gegen seinen Willen hörte Albric zu. Die Silben verschmolzen und vermischten sich ineinander, entglitten seinem Verständnis, aber der Klang der Worte weckte in seiner Seele eine tiefe Furcht. Sie war älter als menschliche Sprache, diese Furcht; es war die Furcht vor Dunkelheit und Stille, die sich jenseits der kleinen Sicherheit eines Feuers erstreckte, die Furcht vor schrecklichen Begierden, die in der Nacht lauerten. Ihr Gesang sprach von Blut und Bindung und von Ketten, die mit Zauberkraft geschmiedet den Schatten Gestalt geben und sie über den Tod hinaus festhalten konnten.
Die Dornenlady hob die Hand und stach mit dem Zeigefinger auf die Knochen der Verstümmelten ein. Zwei dunkelrote Tröpfchen quollen hervor, die sie auf den ledrigen Lippen und nackten Zähnen im Schädel der Dienerin verrieb.
Ein Zischen fuhr durch die toten Zähne, so leise, dass Albric es kaum hören konnte. Keine sterbliche Lunge hätte es so lange aufrechterhalten können, und die Dornenlady wob ihren Gesang darum herum, abwechselnd schmeichelnd und befehlend. Kühler, weißer Nebel sammelte sich über dem halb seines Fleisches beraubten Schädel, leuchtend und schauerlich wie die Geisternebel, die sich im Morgengrauen über den Tümpeln des Grausumpfs erhoben. Der Nebel verschmolz zu einem schattenhaften Abbild der Frau, deren Leichnam unter den Händen der Dornenlady lag, und Severines
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