Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
angespannt, festgefroren in einem schwarzen Anzug wie ein Panther vor dem Sprung, ein goldenes Licht in der einen, ein silbernes, gebogenes Schwert in der anderen Hand. Die Flamme des Streichholzes erstrahlte im unendlichen Dunkel wie die Muster eines von seltsamen geometrischen Gesetzen gezeichneten Sternenhimmels.
Ich befand mich in einem sechseckigen Gemach, dessen Wände vollständig aus Spiegeln bestanden. Der Boden war ein horizontloses Meer gleichseitiger Dreiecke, der Himmel undurchdringlich schwarz. Mit jedem Schritt, den ich tat, bewegten sich Heerscharen identischer Mädchen und ihre Schatten, die Gesichter golden und kobaltblau, mit jeder Drehung schwang ein Schweif mal schwarzen, mal haselfarbenen Haars, als ändere eine Schule von Fischen die Richtung, und immerzu plagte mich die Vorstellung, ich könnte am Rande meines Gesichtsfelds noch etwas anderes – jemand anderen – ausmachen. Aber wenn ich mich drehte, war da nur die Choreographie meiner Spiegelbilder, von vorn, von hinten, aus jeder Richtung, millionenfach allein in der Leere. Das, und der schwache Geruch nach Weihrauch.
Er verbringt zu viel Zeit bei seinen Spiegeln .
Kälte kroch in meine Glieder, und ich wollte nur noch fliehen. Doch wie und wohin?
Endlich glaubte ich, die Ahnung eines Ausgangs zu erspähen; eine Leere anstelle von Spiegeln, einen schmalen Streifen Dunkel inmitten der Schwärze, ein Dunkel von einer anderen Qualität. Ich sah die Öffnung nur in der Ferne, gegenüber einer meiner Zwillingsschwestern, doch wenn ich sie vor mir selbst auszumachen versuchte, konnte ich sie nicht finden und entdeckte sie auch vor keinem meiner anderen Spiegelbilder. Alles, was ich erreichte, war, dass die andere Niobe direkt davorzustehen schien. Täte sie einen Schritt, würde sie verschwinden.
Einen schrecklichen Augenblick lang war mir, als beobachte ich die echte Niobe, die mir das Leben stahl, das ich für meines gehalten hatte. Mir schwindelte. Ich steckte mein Schwert weg, denn ich konnte nicht gegen mich selbst gewinnen. Dann erlosch das Streichholz, und das Dunkel senkte sich über mich.
Ich tat einen Schritt nach vorne.
Eine weitere Tür fiel seufzend ins Schloss.
Ich stand in einem reich möblierten Arbeitszimmer.
Die intarsienverzierten Schränke und die Sitzgruppe am hinteren Ende des Raums, wo eine kleine Leselampe brannte, schienen noch aus dem achtzehnten Jahrhundert zu stammen. Hohe Regale säumten die Wände, die warme Luft roch nach Büchern und Blüten. Zu meiner Linken ruhten einige Steintafeln in einem Schaukasten. Ich konnte die Schrift nicht lesen, aber sie erinnerten mich an die Gravuren auf Sedgwicks Artefakt. Auf dem Schaukasten saß ein lächelnder Buddha neben einer altertümlichen Weltkugel. An der Wand dahinter hing ein Mondphasenkalender, die Monatsnamen – Aibreán, Bealtaine – in Gälisch. Zu meiner Rechten glänzte das verschnörkelte Messinggeländer einer Wendeltreppe, die nach unten führte.
Zögernd durchquerte ich das Zimmer. Hinter der Sitzgruppe lag ein breites, hohes Fenster hinter schweren Gardinen. Auf der Fensterbank blühten unzählige Orchideen. Als ich den Vorhang mit dem Finger hob und hinausspähte, erkannte ich, dass ich wieder am Beginn meiner Reise angekommen war: Ich befand mich am rückwärtigen Ende des Tempels, im ersten Obergeschoss, und sah auf den Hof und das Dach, auf dem ich mich vorhin versteckt hatte. Irgendwo unter mir musste die Werkstatt liegen. Ich wollte schon meiner Neugier folgen und zu der Treppe eilen, dann entschied ich mich anders. Erst brauchte ich Antworten.
Ich sah mich um. Die Leselampe war eine altertümliche Öllampe mit einem Argandbrenner. Sie warf eine Lichtinsel auf mehrere ledergepolsterte Fauteuils und einen dunklen Tropenholztisch, auf dem Bücher, Druckerzeugnisse und Dokumente lagen. Ich trat näher an den Tisch und warf einen Blick darauf.
Die Druckerzeugnisse waren größtenteils Londoner Tages- und Wochenzeitungen, die die Entstehung und die Fortschritte des Kristallpalasts dokumentierten. Ich fand auch einen Nachdruck der ersten Entwürfe, mit denen Paxton die königliche Kommission überzeugt hatte, obgleich sie nicht viel mehr als Gekritzel auf Löschpapier gewesen waren. Andere Pläne zeigten eine komplizierte Skulptur oder Maschinerie, die aus mehreren konzentrischen Ringen bestand. Sie erinnerte mich an das Bild, das sich viele Europäer bis zur Renaissance von ihrer Welt gemacht hatten: eine Sphäre zwiebelschalengleich in der
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