Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
anderen. Die meisten dieser Pläne waren jedoch skizzenhaft, und viele hatte man mehrfach ausgebessert und dann doch wieder durchgestrichen, als wäre man nie zu einem befriedigenden Ergebnis gelangt. Ich fand keine endgültige Version des bizarren Konstrukts.
Die Bücher waren naturwissenschaftlichen Inhalts: Sternkunde, Physik, aber auch speziellere Gebiete wie Optik oder Pneumatik. Viele Namen waren mir bekannt: Kepler, Huygens, Newton, Franklin, Faraday. Dann blieb mein Blick an einer Abhandlung hängen, die zuoberst auf einem Stapel loser Blätter lag:
Grundzüge der Atmosphärischen Eisenbahn
von Isambard Kingdom Brunel
Ich nahm die Abhandlung und blätterte sie durch. Brunel berichtete darin von einem bahnbrechenden Transportsystem, das der gängigen dampfbetriebenen Eisenbahn Konkurrenz machen sollte und in Irland schon seit Jahren erfolgreich Verwendung fand. Die Wagen fuhren entlang einer Metallröhre und kamen ohne Lok aus, da sie von einem künstlichen Vakuum in der Röhre vorangezogen wurden.
Unter dem Aufsatz lagen einige handschriftliche Dokumente, allesamt sortiert, gezeichnet und säuberlich mit Datum versehen:
Betr. Kensingtontunnel (3). IKB 091350
Betr. Ätherbahn (8a). IKB 012151
„Faszinieren dich die technischen Aspekte unseres Unternehmens?“, fragte eine Stimme hinter mir, und ich fuhr herum. „Oder würdest du es eher als teleologische Frage betrachten?“
Vor mir stand der Hagere, der Paxton und Brunel zur Tür gebracht und Bailey zurückgepfiffen hatte, als er anfing, zu viele Fragen zu stellen. Er trug eine weite, dunkle Robe mit Samtbesätzen an Kragen und Ärmeln. Eine Mähne rauchgrauen, fast silbernen Haars krönte sein Adlergesicht. Noch immer konnte ich seine Gefühle nicht lesen – vermutlich hatte ich ihn deshalb zu spät bemerkt –, und er hielt einen kleinen, aber überaus bedrohlich wirkenden Bündelrevolver auf mich gerichtet.
„Aaron“, sagte ich. „Oder sollte ich sagen Sir Aaron?“
„Miss Niobe“, lächelte er, doch seine Stimme strafte das Lächeln Lügen. „Oder lieber Lady Niobe? Wie viele Titel trägt der gute Bailey gerade? Wo du doch keinen Nachnamen hast – er könnte dich ebenso gut adoptieren wie heiraten, man würde den Unterschied kaum merken. Was wäre dir lieber?“
„Was würden Sie mir raten?“, fragte ich unschuldig.
„Ich“, sagte Aaron, „hätte dir bereits vor langer Zeit geraten, dich in Bescheidenheit zu üben und nicht die Kreise derer zu stören, denen du deine Existenz verdankst. Mit Bailey als Ziehvater wäre allerdings zu erwarten gewesen, dass dieser Rat auf taube Ohren stößt.“
„Die Venus ist ein kapriziöser Himmelskörper“, feixte ich.
„Du kennst seinen Namen?“
„Sie sind Jupiter“, sagte ich. „Der Logenmeister, nicht wahr? Der Meister vom Stuhl.“
„Wenn du es so nennen willst.“
„Freut mich, Sie kennenzulernen“, lächelte ich und machte einen kleinen Schritt auf ihn zu.
„Spar dir die Mühe“, sagte er und strich sich das Haar zurück, so dass ich hinter seinem Ohr eine kleine Apparatur erkennen konnte, die von einer Art Brillenbügel gehalten wurde. „Du kannst mich nicht beeinflussen.“
„Sie tragen einen Kristall“, stellte ich fest, versuchte aber dennoch, tiefer zu dringen, „und einen Shila.“
„Überrascht dich das?“, fragte er. „Staune lieber darüber, dass du einen unserer Schätze tragen darfst. Ich hielt es immer für einen Fehler, aber Bailey, der romantische Narr, hatte ein paar von uns überzeugt, dir eine Chance zu geben.“
„Beschweren Sie sich nicht“, sagte ich und machte einen weiteren Schritt. „Ich habe Ihnen stets gute Dienste geleistet.“
„Doch scheint es nun, als ginge die Tochter eigene Wege.“ Beinahe klang er verbittert, doch seine eisblauen Augen zeigten kein Bedauern, und seine Blicke bohrten sich in mich wie Dolche. Ich fragte mich, ob er versuchte, sein Talent gegen mich einzusetzen und was es bewirkte. Ich konnte nur hoffen, dass wir ein Patt hatten, solange auch ich meinen Shila trug. „Ich muss sagen, es beeindruckt mich, dass du den Weg hierher gefunden hast, mein Kind.“
„Hat Bailey die Spiegelkammer gebaut?“
Er hob sein Kinn. „Tu nicht so, als wüsstest du, wovon du sprichst.“
„Die Inschrift über der Tür“, hakte ich nach und machte einen dritten Schritt. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus. „‚Erkenne dich selbst ‘ – habe ich recht?“
„Freut mich, dass das Vermögen, das wir in deine
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