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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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war lange ein Land der Skeptiker und der leeren Kirchen gewesen. Erst allmählich fiel den Menschen auf, was sie vermissten, und nach und nach wandte man sich neuen Ideen zu. Lady Sedgwick war nicht die Einzige in London, die dieser Tage versuchte, Geister zu beschwören.
    Wo Bailey seinen Platz in diesem Wettstreit der Wirklichkeiten sah, war eine weitere Frage, auf die ich nie eine Antwort erhalten hatte. Gerade er wusste besser als die meisten, welche Wunder die Welt für einen bereithielt, wenn man nur danach suchte. Auch ihn hatte sein Weg zu Ananda geführt. Dennoch nannte er sie nie beim Namen, leugnete ihre Präsenz und tat die meiste Zeit, als sei sein Auge aus Kristall nur ein nützliches Werkzeug, ein interessantes Experiment, mit dem er seine Freunde verblüffen konnte, so wie die Nekrotypien und die vielen anderen sonderbaren Verwendungszwecke, die die Loge für die Kristalle oder die Shilas ersonnen hatte. Es fiel mir aber schwer, mir Bailey in einer Ordensrobe vorzustellen, wie er alten, ibisköpfigen Göttern Opfer darbrachte.
    Just diesem Zweck schienen jedoch viele der Räume zu dienen, die ich auf meiner Erkundung fand. Große Teile des Tempels, der deutlich weitläufiger war, als es von außen den Anschein hatte, bestanden aus Andachts- oder Versammlungsräumen: kerzenbeschienene Kammern, in deren Mitte mal ein persischer Teppich, mal ein römisches Mosaik den Blick auf sich zog, die Wände gesäumt von Alabasterfiguren und Marmorsäulen. Ich sah kleine Obelisken und mäanderüberzogene Altäre; in manchen Räumen standen Räucherschalen, oder es hing ein Thuribulum von der Decke, und der schwere Duft nach Weihrauch und anderen Harzen haftete den Teppichen und Vorhängen an.
    Die meisten Räume hatten keine Fenster, oft waren sie auch nicht rechtwinklig angelegt, und so war ich mir bald nicht mehr über die Richtung im Klaren, in die ich mich bewegte. Außerdem waren sie in verschiedenen Farben gehalten, und ich fühlte mich an den Prinzen aus Poes Erzählung vom Roten Tod erinnert, der auf seiner kopflosen Flucht ein Gemach nach dem anderen durchquert, bis ihn sein unausweichliches Schicksal ereilt. Tatsächlich schien da eine unentrinnbare Präsenz zu sein, die die Räume durchwehte, mal näher, mal ferner, wie ein dunkler Gesang. Bald war ich mir nicht mehr sicher, ob ich den leisen Gesang nicht tatsächlich hörte und ob er dem nächsten Raum, dem nächsten Stockwerk oder meiner Einbildung entsprang. Es war kein sehr angenehmes Gefühl.
    Meine Schritte beschleunigten sich. Dann musste ich unachtsam geworden sein, denn als ich eine weitere Tür öffnete, fand ich, dass der Raum dahinter nicht verlassen war. Da war ein weißgekleideter Mann auf der anderen Seite, der mir den Rücken zudrehte und das Gemach in dem Augenblick verließ, in dem ich es betrat. Dann war er verschwunden, und keine Tür blieb dort zurück, wo ich ihn gesehen hatte.
    Ich erstarrte. Dann durchquerte ich behutsam den Raum, der ganz aus Marmor von der Farbe alten, dunklen Blutes bestand, und streckte die Hand nach der Wand aus, durch die der Mann allem Anschein nach gegangen war. Der Marmor war kalt, und nur widerwillig verstärkte ich den Druck meiner Hand.
    Eine kaum erkennbare Fuge tat sich auf. Dann schwang ein Teil der Wand auf, und ein frischer Windhauch fuhr mir entgegen. Ich hielt den Durchgang mit den Fingerspitzen offen, lauschte und konzentrierte mich auf meinen sechsten Sinn, doch weder hörte ich etwas, noch fühlte ich die Anwesenheit eines Menschen auf der anderen Seite.
    Über der Tür aber bemerkte ich eine kaum wahrnehmbare Inschrift. Sie war in griechischen Lettern verfasst:

    Ich glitt durch die Öffnung, und die Wand hinter mir schloss sich mit kaum wahrnehmbarem Seufzen. Es war finster und kalt, und ich hörte mein Herz schlagen. Ich tastete nach der Tür, aber ich fand sie nicht mehr.
    Im selben Moment schwand meine Gewissheit, alleine zu sein.
    „Bailey?“, wisperte ich.
    Es gibt Bereiche des Tempels, in denen ich mir wie ein Fremder vorkomme .
    Langsam griff ich nach der Schachtel Zündhölzer an meinem Gürtel. Das leise Zittern der Espenhölzchen schien mir so laut, als hätte ich einen Berg von Mikadostäben zum Einsturz gebracht. Vorsichtig öffnete ich mit der Rechten die Schachtel, während ich mit der Linken nach dem Vaal auf meinem Rücken griff. Das Hölzchen entflammte im selben Moment, in dem ich das Schwert zog.
    Ich sah mich selbst millionenfach reflektiert: eine junge Frau,

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