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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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auf einem Bahnhof auf einen lange überfälligen Zug zu warten, der jeden Moment kommen konnte – oder auch nicht.
    Ich hatte meine Rundgänge genutzt, mich mit dem Palast und seinen Exponaten vertraut zu machen. Das meiste davon war derselbe pompöse Kitsch, wie man ihn allerorten in den Salons reicher Herrschaften antraf, und wann immer ich an dem 30 Fuß hohen, rosafarbenen, mit Duftwassern versetzten Kristallbrunnen in der Mitte des Palasts vorbeikam, fühlte ich mich wie der Aufpasser einer sechsjährigen Prinzessin, den das Schicksal dazu verdammt hatte, ihre Puppenhäuser und Spielsachen mit seinem Leben zu verteidigen.
    Vielleicht war das der Preis dafür, ein Weltreich zu sein, grübelte ich, während ich zwischen Indianerkanus und Gummibooten entlangwanderte und mich wie jede Stunde davon überzeugte, dass der goldene Käfig und der Sockel darunter unangetastet waren, was so viel hieß wie dass der falsche Koh-i-Noor sicher in seinem nächtlichen Versteck ruhte. Es war gut, dachte ich, dass der echte Stein bei Sektion Cricket in Verwahrung war, wahrscheinlich in dem geheimen Safe, denn der Diamant war unbezahlbar und bereits zu oft in seiner langen Geschichte beinahe verlorengegangen. Ich fand auch nicht, dass es der Ausstellung schadete, ihr eine Kopie unterzujubeln. Das war auch nicht geschmackloser als die Zementbüste Shakespeares oder die Kollektion parfümierten Düngers.
    Was für einen unbeschreiblichen Plunder die Welt doch nach London entsandt hatte! Es gab mechanische Hände mit allerlei Haken, ein Klavier für vier Spieler und ein automatisches Bett, das den Schläfer hinauswarf. In letzter Minute war noch das Modell eines fliegenden Dampf- oder dampfbetriebenen Luftschiffes geliefert worden. Der Architekt war ein verurteilter Sträfling, der sich im australischen Exil zum Erfinder und Lokalpatrioten gemausert hatte. Wie man für einen Ort wie Australien patriotische Gefühle hegen konnte, war mir freilich immer ein Rätsel gewesen. Bei Cook, eher würde ich meinen Stockdegen fressen, als freiwillig nach Australien zu ziehen!
    Mein Vater hatte das damals anders gesehen. Als man Anfang der Dreißigerjahre beschloss, Südaustralien zu einer Kolonie auszubauen, war er einer der ersten gewesen, die sich freiwillig gemeldet hatten. Das war kurz nach dem Ableben meiner Mutter gewesen. Sein letzter Brief erreichte mich aus einem Ort namens Adelaide. Wenn ich mich recht erinnere, fragte er mich darin, ob ich nicht nachkommen wolle. Ich hatte aber gerade bei den Marines angefangen, und selbst wenn nicht, wäre ich nicht nach Australien gezogen.
    Die Arbeiter, die das fliegende Ungetüm auspackten, waren jedenfalls etwas ratlos gewesen, und so beschlossen sie, es an die Decke zu hängen, so wie den riesigen Adler im amerikanischen Teil der Ausstellung. Am besten passte es wohl in den hinteren Bereich des Palasts, den sie die Monsterausstellung nannten. Diese Monsterausstellung war die halbfertige Reproduktion eines urzeitlichen Farnwalds und seiner Bewohner, die den Fieberträumen eines Transmutationisten entsprungen sein mochten. Es hieß, der Künstler habe sich gesträubt, seine absurden Skulpturen jetzt schon der Öffentlichkeit zu präsentieren, aber die königliche Kommission war wohl der Meinung gewesen, die Westseite des Palasts bräuchte noch eine echte Attraktion. Auf mich wirkten die Viecher nicht weniger kindisch als der rosa Springbrunnen.
    Als ich bei den Vorräten in der Nähe der Toiletten Geräusche gehört und schon zu hoffen begonnen hatte, unser diebisches Phantom sei zurückgekehrt, hatte ich einen Superintendenten der Metropolitan Police erwischt, wie er sich mit zwei Huren vergnügte. Er hatte entsetzt auf meinen gezückten Stockdegen gestarrt, und wahrscheinlich war ihm beim Anblick des blanken Stahls alle eigene Standhaftigkeit abhanden gekommen, denn er hatte sich fluchend das Hemd in die Hosen gestopft, die Mädchen davongescheucht und gedroht, sich bei meinen Vorgesetzten zu beschweren. Wir wussten beide, dass es dazu nicht kommen würde, aber er warf mir den Rest unserer gemeinsamen Schicht böse Blicke zu, während er unverhohlen aus einem Flachmann trank, statt seine Arbeit zu machen.
    Mehrfach ertappte ich mich dabei, wie ich mich um den Palast sorgte, wie mich eine nachlässig übermalte Naht betroffen machte, wie es mich mit Stolz erfüllte, jeden Winkel, jede Flucht zu kennen, als hätte ich selbst sie gebaut. Ich lauschte dem Zischen der fernen Dampfkessel, die die

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