Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Alte.
„Dürfte ich eintreten?“, fragte ich und schob einen Fuß in die Tür.
„Das dürfen Sie nicht“, antwortete die Alte und versuchte, die Tür zu schließen.
Es wäre mir ein Leichtes gewesen, sie und die Tür gemeinsam gegen die Wand zu drücken, und viel hätte auch nicht gefehlt, aber die gebotene Höflichkeit stand dem vielleicht im Weg. So hielt ich die Tür nur gepackt, so dass sie sich weder öffnen noch schließen ließ, und überlegte, wie ich mit dieser störrischen Haushälterin am besten verfahren sollte, als auf einmal eine andere Frau in den Türrahmen trat.
„Schon gut, Mrs. Lincoln“, sagte sie und legte der Alten eine Hand auf die Schulter. Die zuckte die Achseln, schnaufte, drückte der anderen die Klinke in die Hand und zog sich zurück.
Vor mir stand eine hochgewachsene, dunkelhaarige Frau mit samtener, ockerfarbener Haut. Natürlich war es das Mischlingsmädchen aus dem Palast, und ich fluchte innerlich. Was hatte sie hier verloren? Hatte dieser Bailey sie mitgenommen und wenn ja, weshalb?
Ich musterte sie. Die naheliegende Antwort auf meine Frage war, dass sie nur einen leichten Morgenmantel anhatte. Ihr langes Haar trug sie offen, so dass es ihr bis fast an die Hüfte reichte. Ich hatte noch nie eine Frau im Morgenmantel gesehen, und offenes Haar bekam man im Empire eigentlich nur bei Prostituierten zu sehen. Dass sie obendrein keine Schuhe trug und dies sicher nicht an ihrer Armut lag, verstärkte diesen Eindruck noch.
Dieser Einäugige war nicht nur ein Freimaurer und vielleicht ein gefährlicher Freigeist, er war offenkundig auch ohne jeden Anstand.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie und blinzelte mich mit ihren Rehaugen an. Ich seufzte und verwarf eine Menge wenig origineller Erwiderungen. Augenscheinlich erwog sie nicht, mich hereinzulassen, und ich verspürte keine Lust, mich mit zwei hysterischen Frauenzimmern zu zanken. Immerhin hatte sie anscheinend keinen Schimmer, wer ich war, also konnte ich ihr viel erzählen.
„Ich bin mit der Untersuchung der gestrigen Vorfälle betraut“, sagte ich und sah an ihr vorbei ins Innere, „und hätte einige Fragen an Lord Bailey.“
„Er ist nicht hier.“
„Das wurde mir schon mitgeteilt“, nickte ich. „Wann wird er denn wieder da sein?“
„Das weiß ich nicht“, antwortete sie und verschränkte die Arme. Sie roch, als habe sie gerade gebadet, und auch ihr Haar glänzte noch feucht. Offensichtlich spielte sie Spiele mit mir, aber ich wollte ihr nicht den Gefallen tun, sie anzustarren. Höchstwahrscheinlich wurde sie sehr gerne angestarrt. „Kann ich ihm etwas ausrichten?“
„Nur, dass ich mich mit ihm über die Vorfälle am Palast unterhalten will.“
„Welche Vorfälle?“, erkundigte sie sich unschuldig.
„Ich meine das widerrechtliche Eindringen zweier Personen gestern Vormittag in den Kristallpalast. Ach, und natürlich auch sein eigenes Eindringen, das – strenggenommen, versteht sich – ebenfalls widerrechtlich war.“
Sie hob eine Braue und musterte mich verschmitzt. Es war der Blick einer Frau, die glaubte, mit einem einzigen Blick alles erklären und alles bekommen zu können. Verdammt, ich hatte für diesen Typ Frau nicht viel übrig. Was glaubte sie, was man von ihr halten sollte, wie sie hier halbnackt im Freien stand?
„Soll ich ihm das bestellen, Captain Royle?“
„Tun Sie, was Sie wollen“, antwortete ich barsch, und ich konnte sehen, wie sich ihr Gesicht verfinsterte. Wahrscheinlich war sie es nicht gewohnt, so behandelt zu werden. Wahrscheinlich ... ich fluchte leise. Lassen Sie sich nicht um den Finger wickeln .
„Er kann sich an die Sicherheitskräfte am Palast wenden“, murmelte ich, gab meine Versuche, Anstand walten zu lassen, auf und ließ meinen Blick nun schamlos ihre nackte Haut empor wandern: ihre Fesseln, ihren Ausschnitt, ihren Hals ...
„Ich glaube, er hat schon mit der Polizei gesprochen.“
„Ich spreche nicht von der Polizei“, sagte ich, als ich das kleine Halsband entdeckte.
„Wen repräsentieren Sie dann, Captain Royle?“
Bingo. Mein Blick fand den schwarzen Stein; sie benutzte denselben Trick wie Wymer, nur noch etwas perfider: Sie verbarg ihr Geheimnis vor aller Augen. Ich wollte nicht, dass sie bemerkte, dass ich sie durchschaut hatte. Zum Glück konnte sie nicht wissen, dass ich auch einen solchen Stein trug.
„Sind Sie schwerhörig?“, fragte ich deshalb, und ihr Antlitz wurde noch eine Spur dunkler. Wenn ich so weitermachte, würde
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