Der Kronrat (German Edition)
widerfuhr. Sonst hätte auch ich zuerst vermutet, dass es eine Falle ist. So aber habe ich mich gefragt, was so wichtig sein kann, dass wir es sehen sollen. Jetzt weiß ich es. Es erklärt den Verlust der Hoffnung.«
»Ja«, sagte er und sah lange auf diese Stadt hinab. »Dieser Anblick kann einem die Hoffnung schwinden lassen.« Er seufzte. »Und dieser Ort?«, fragte er. »Er ist von dieser Stadt umwachsen, eingewuchert.« Er tippte mit der Fußspitze gegen eine der rostigen Stangen, welche die Schädel hielten. »Es gab einen Kampf, das ist leicht zu erkennen, aber wenn der Nekromantenkaiser ihn gewonnen hat, warum hält er sich dann von hier fern?«
»Ich weiß es nicht. Wir sollten uns noch ein wenig umsehen, vielleicht finden wir die Antwort.«
Wir gingen um den alten Tempel herum, stiegen über Steine und gefallene Säulen, und als wir die Rückwand erreichten, durch die eingestürzten Wände traten und sahen, was hinter diesem Hügel lag, war die Antwort leicht zu finden.
Mächtige Ketten, jedes einzelne Glied dreimal größer als ich, verrostet und von Pflanzen überwuchert, lagen wild versprengt entlang des Abhang, das eine Ende jeweils in mächtige Blöcke aus Basalt versenkt.
Die, die diese Ketten gesprengt hatte, war dennoch nicht entkommen. Als ob sie uns spüren könnte, hob sie den Kopf und sah uns mit ausgebrannten Augenhöhlen an. Die breiten Schwingen waren verkrüppelt und würden nie mehr wie Orkane die Winde schlagen. Drei der Ketten hatte sie gesprengt, der vierten hatte sie ein Bein geopfert, diese Kette hielt noch immer braune Knochen von der Größe eines Hauses. Ihre Haut war von einem blassen Türkis, mit Gold und Silber gesprenkelt. Jede Schupppe glänzte im Abendrot wie ein frisch poliertes Juwel. Der lange Hals war zierlich und weich geschwungen, das mächtige Haupt schlank und grazil.
Geblendet und verstümmelt, ihrer Schwingen und eines Beins beraubt, war sie dennoch eine Kreatur von ungeheurer Schönheit, von Grazie und Eleganz. Ich spürte etwas von ihr herüberwehen, obwohl sie gut vierhundert Schritt von uns entfernt gefangen lag. Sie hatte entschieden . Nicht für uns, sondern für die, die sie hier quälten und gefangen hielten. Es war nur noch nicht so weit, dass sie ihre Entscheidung in die Tat umsetzten konnte.
Vor ihr, von zwei mächtigen, schlanken Pranken gehalten, lag die letzte Kette, die fünfte, die in weitem Bogen zu dem schlanken Hals führte und ihn in einer kalt geschmiedeten Fessel hielt.
Ich folgte dieser letzten Kette, die gut doppelt so dick und schwer war wie die, die sie schon gesprengt hatte. Mit dem Blick auf das Fundament des Bergs, auf dem dieser Tempel stand, drehte ich mich um und suchte das Gesicht der Figur, die im Tempel zerschmettert auf dem Boden lag. Der Kopf war noch zu erkennen, doch man hatte ihn seiner Züge beraubt, nur eine Ecke eines Lächelns war noch vorhanden. Ich ließ meinen Blick weiterwandern, sah die steinernen Girlanden, die Blumen, die Fresken, die die Wände schmückten, den flachen, überwucherten Teich in der Mitte und Eschen, die in den Fugen wuchsen. Fast konnte ich den alten Tempel in seiner Pracht sehen, offen mit freitragenden Säulen und ohne ein Dach. Und eine Göttin voller Anmut, der man keine schlagenden Herzen oder Tiere zum Opfer brachte oder Geschmeide und Juwelen, sondern nichts als Blumen. Ein leichtes Beben unter meinen Füßen und ein Grollen wie von einem Gewittersturm ließen mich wieder zurücksehen zu ihr.
Die mächtige Kette klirrte nicht einfach nur, als sie sich bewegte und auf uns zuhinkte. Die rostigen Eisenglieder ließen den Berg erzittern, als sie unter ihrem Gewicht tiefe Kerben in den Stein schlugen. Ich war wie gebannt, konnte und wollte mich nicht bewegen. Dem Kommandanten erging es ähnlich; seine Hand umklammerte das Schwert, doch hier würde es ihm wohl genauso wenig nützen, wie mir meine eigene fahle Klinge.
An den Rändern des verbrannten Felds, das durch die Begrenzung dieser Kette abgemessen wurde, türmten sich die Gebeine unzähliger Soldaten in Resten von schwarzen Rüstungen, Knochen von Pferden oder Kriegsbestien, Trümmer von Turmwagen und Katapulten oder Speerschleudern. Ein Schlachtfeld, auf dem sich nach Hunderten von Jahren noch immer Platz für neue Tote fand.
Als sie näher kam, sah ich hier und da in diesen schillernden Schuppen Spitzen stecken, dort sogar ein Schwert, das in die Fuge zwischen zwei Schuppen getrieben worden war wie ein Nagel in eine
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