Der Kronrat (German Edition)
Insel mit einem Graben, der wohl einst mit heiligem Wasser gefüllt gewesen war. Auch hier gab es diese Treppe, der die letzte Stufe fehlte, und vor der Treppe befand sich ein großer Altarstein aus Rosenquarz. Weit hinten war in der fernen Wand eine schwere, goldgeschmückte Tür zu erkennen.
Doch es war die Statue des Gottes, die mich in ihren Bann schlug.
Es gab Religionen, die ihre Götter gern größer darstellten, als sie es waren, aber das entsprach nicht unserer Art. Astarte, Soltar und Boron waren nicht überlebensgroß aus dem Stein gehauen, schließlich waren sie die Götter der Menschen. Der Göttervater war es ganz offensichtlich nicht. Und ob dies hier die Arbeit eines Steinmetzes war, wagte ich zu bezweifeln …
In der Gestalt ähnelte der Gott uns Menschen – oder wir ihm –, er stand auf zwei Beinen aufrecht vor uns, das edle Gesicht blickte über unsere Köpfe hinweg durch das hohe Tor auf den Platz hinaus. Gut acht Schritt hoch stand er in einer entspannten Pose da, eine Hand auf einen schweren Stab aus dunklem Holz gestützt, und er schien ein wenig zu lächeln, während seine goldenen Augen von einem inneren Licht erfüllt waren. Doch diese Augen waren fremd und verfügten über senkrecht geschlitzte Pupillen.
Die Gesichtszüge ähnelten in ihrer Klarheit denen von Elfen: die hohen Wangenknochen, der schmale Mund, hinter dem scharfe Zähne zu erahnen waren, der Ansatz des Halses und auch die leichte Neigung des Kopfs, ganz ähnlich der, die Zokora oft an den Tag legte, wenn sie einen fragend ansah … Hier vor uns stand der Ursprung der Elfen, aber ein Elf war er nicht.
Der Gott war nackt, sein Geschlecht nicht minder deutlich als der Rest, und während wir Menschen über glatte Haut verfügten, war der Gott in Schuppen gehüllt, die von dunklem Blau, Türkis und Gold gesprenkelt waren und im Licht auf eine Art und Weise schimmerten, die ihnen scheinbar Bewegung verlieh.
Es sah nicht aus wie eine Statue, sondern so, als ob der Gott selbst dort stand. In Seelenreißers Wahrnehmung war er von einem vagen Leuchten erfüllt, das zwar in dem Standbild seinen Ursprung fand, aber auch alles um es herum erfüllte.
Die Hände besaßen sechs Finger, die Füße sechs Zehen, die Fingernägel ähnelten den Klauen eines Reptils, nur dass sie nach Art der Katzen einziehbar waren, und schimmerten wie dunkler Stahl. Er war auf eine Art fremd und zugleich bekannt, die mich erschreckte und mit Ehrfurcht erfüllte.
»Götter«, entfuhr es mir. »Wer … was ist er?«
»Ein Gott der ersten Wesen, die es auf dieser Welt gab«, flüsterte der Hohepriester. Seine Stimme trug weit in diesen alten Mauern, jeder konnte ihn verstehen. »Älter als die Titanen, die als Erste die Welt bevölkerten. Vieles in den alten Schriften deutet darauf hin, dass er zum Geschlecht der Drachen gehört.«
»Ein Drache?«, fragte Serafine leise. »Ich dachte …«
»Es gab wohl unterschiedliche Arten«, erklärte der Hohepriester. »Solche, die intelligent waren, und andere, die mehr Tieren glichen, aber alle waren von Magie erfüllt, und einigen sagt man nach, dass sie ihre Gestalt verändern konnten. Vielleicht zeigt er sich uns in seiner menschlichen Gestalt.«
Ich trat an das Standbild heran, und je näher ich kam, desto deutlicher zeigte mir Seelenreißer die Majestät dieses Wesens.
»Götter«, flüsterte ich, denn als ich hochsah, hatte der Gott geblinzelt, gleich zweimal, mit einem Lid, das seitlich vorschnellte, und ein zweites Mal mit einem menschlich erscheinenden Augenlid.
»Das … Er …« Die Stimme drohte mir zu versagen.
»Ja«, sagte der Hohepriester. »Aber lasst uns nicht seine Ruhe stören. Es ist noch nicht an der Zeit, dass er wieder erwacht … Folgt mir.«
Gepanzert, übermenschlich groß, mit Klauen, die einen in Stücke reißen konnten, hätte mich das Wesen mit Angst und Schrecken erfüllen müssen, aber ich spürte eher eine gütige Geduld, die er ausstrahlte. Er wartete …
Einen letzten Blick hoch zu ihm wagte ich, dann sah ich hastig weg und folgte dem Hohepriester, der uns zu der Tür hinter dem Altar führte. Fast hätte ich erwartet, der Gott würde sich umdrehen, um uns mit seinem Blick zu folgen, doch das tat er nicht. Er schlief mit offenen Augen und hatte jeden von uns wahrgenommen.
»Die Tochter des Drachen«, flüsterte Serafine. »Was ist, wenn es wörtlich gemeint ist?« Sie schaute verstohlen zu dem Gott zurück. »Dann kann es nicht Leandra sein …«
»Es müsste
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