Der Kruzifix-Killer
mit der zweiten Stelle in seinem Leben, nach seiner Arbeit, zufriedenzugeben.
Reiß dich zusammen, Carlos, noch bist du nicht tot , sagte er sich.
Er musste versuchen, seine Umgebung zu erkunden, herauszufinden, wo er war. Er griff noch einmal nach der Kette um sein Fußgelenk und fuhr mit den Fingern daran entlang, um festzustellen, wie viel Bewegungsspielraum er hatte. Er erhob sich und merkte dabei, wie schwach er auf den Beinen war. Hastig stützte er sich an der Wand ab. Seine Beine schmerzten wie von tausend Nadelstichen. Er blieb eine Weile so stehen und wartete, bis seine Durchblutung sich wieder normalisierte.
Mit den Händen an der Wand entlangtastend, fing er an, langsam nach links zu gehen. Die Ziegelmauer fühlte sich feucht, aber solide an. Er kam nicht weiter als vielleicht eineinhalb Meter, dann stieß er an die Quermauer. Er folgte ihr, doch bevor er ganz ans Ende gelangen konnte, hielt ihn die Kette zurück. Er streckte den Arm aus und konnte die dritte Wand berühren. Dann ging er wieder zurück und tastete sich in der Gegenrichtung entlang. Er erreichte etwas, das sich anfühlte wie eine schwere Holztür. Er hämmerte mit der Faust dagegen, doch das einzige Geräusch, das er damit hervorrief, war ein dumpfer Laut. Wo er auch war, es war jedenfalls ein sehr solides Gefängnis.
Er ging wieder zurück zu seinem Ausgangspunkt, als er mit dem Fuß gegen etwas stieß. Instinktiv zuckte er einen Schritt zurück und wartete, doch nichts passierte. Er ging in die Hocke und tastete vorsichtig nach dem Gegenstand. Er berührte ihn mit den Fingern – eine Plastikflasche, gefüllt mit einer Flüssigkeit.
Er schraubte den Deckel ab und roch an dem Flascheninhalt. Kein Geruch. Er steckte den rechten Zeigefinger hinein. Die Flüssigkeit fühlte sich an wie Wasser, und dieser Gedanke machte ihm auf einmal bewusst, wie durstig er war. Vorsichtig führte er den Finger an seine Zunge: kein Geschmack. Genau wie Wasser.
Vielleicht wollte ihn der Killer lebend, zumindest vorerst. Es war nicht ungewöhnlich, dass Killer ihre Opfer erst einmal für einige Zeit am Leben ließen, bevor sie sie umbrachten. Wenn Garcia irgendeine Chance gegen den Killer haben wollte, braucht er jedes bisschen Kraft. Er tauchte erneut den Finger in die Flüssigkeit und leckte ihn ab. Es war Wasser, ganz sicher. Langsam führte er die Flasche an die Lippen, nahm einen Schluck und behielt ihn im Mund, ohne zu schlucken. Er spülte die Flüssigkeit eine Weile im Mund herum, um sie zu schmecken, doch er entdeckte nichts Ungewöhnliches daran. Schließlich ließ er sie in seine Kehle hinunterrinnen. Es fühlte sich himmlisch an.
Er wartete zwei Minuten lang, ob sein Magen irgendeine Reaktion zeigte, doch nichts passierte. Hastig nahm er drei, vier gierige Schlucke. Das Wasser war zwar nicht kalt, doch es gab ihm neue Kraft.
Er schraubte den Verschluss wieder auf und setzte sich, mit der Flasche zwischen den Beinen, gegenüber der Holztüre auf den Boden. Die Tür war der einzige Weg herein oder hinaus, und er hoffte, dass sie irgendwann aufgehen würde. Er brauchte einen Plan, doch ihm blieb keine Zeit, einen zu schmieden.
Eine Viertelstunde später spürte er, wie er schläfrig wurde. Er schlug sich kräftig mit beiden Händen ins Gesicht, um sich wach zu halten, doch es half nichts. Schwächer werdend griff er nach der Wasserflasche und schleuderte sie gegen die Holztür. Ihm war klar, was er getan hatte: Er hatte sich freiwillig selbst betäubt.
56
U m fünf Uhr morgens kroch Hunter nach wieder einer quälenden Nacht aus dem Bett. Er hatte nur in unregelmäßigen Intervallen geschlafen, nie länger als zwanzig Minuten, und auch dann nur unruhig. Der doppelte Scotch am Abend hatte zwar ein wenig geholfen, aber nicht genug. Wenn das heute Abend wieder so geht, muss ich eine Ladung Schlafmittel einwerfen , überlegte er. Er saß in der Küche und behandelte seine üblichen morgendlichen Kopfschmerzen mit einem Glas Orangensaft und einer Dosis starker Schmerztabletten.
Er hatte zwar früh loslegen wollen, allerdings nicht schon um fünf. Er wollte wenigstens noch eine Patientenliste erarbeiten, bevor er sich mit Garcia im Dezernat traf. Die Recherchen der letzten Nacht – der Abgleich mit Datenbanken und Fotos – hatten zwar nichts erbracht, doch nach wie vor gab es einige Krankenhäuser und Reha-Zentren, die er abklappern konnte, und er wollte unter allen Umständen eine gewisse Zuversicht bewahren.
Da er voraussichtlich
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