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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Dubosarsky
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es Rhody selbst, Elkanah zu finden. Er entdeckte ihn recht schnell, genauso wie die Whiskyflasche. Durch den Dielenboden ihres Zimmers, das sich direkt über der Küche befand, hörte sie das Geklimper von Gläsern und eine gedämpfte Unterhaltung. Theodora fragte sich, worüber die beiden reden mochten. Vielleicht über die guten alten Zeiten, entschied sie, bevor Elkanah und Hannah einander begegnet waren.
    Samuel betrat ihr Zimmer, sein Mathebuch unterm Arm. »Ist das Rhody da unten?«, fragte er verwundert.
    Theodora nickte. »Wir waren Eis essen«, sagte sie. »Im Hilton.«
    Samuel verzog wehmütig das Gesicht. An so etwas war mit Elias nicht zu denken. »Welche Sorten denn?«, begann er und setzte sich auf ihr Bett, nur um wieder aufzuspringen, als die Stimmen im Untergeschoss eine wütende Lautstärke erreichten und Schritte durch den Hausflur polterten. Samuel und Theodora rannten nach draußen auf den Treppenabsatz, wo sie vorsichtig die Köpfe übers Geländer streckten.
    »Verzieh dich gefälligst, du alter Narr!«, brüllte Elkanah, was nicht einmal ansatzweise höflich oder respektvoll klang, dachte Theodora vorwurfsvoll. Schließlich war Rhody zu Gast, und der Jüngste war er auch nicht mehr.
    »Es gibt mehr als nur eine Sorte Narren«, gab Rhody gleichmütig zurück. Als er Theodora und Samuel bemerkte, lupfte er seinen Hut. »Scheint so, als hätte ich eure Gastfreundschaft etwas überstrapaziert, Kinder.«
    »Gastfreundschaft!« Elkanah spuckte das Wort aus.
    »Keine Sorge, ich finde ein Taxi an der Kreuzung«, lächelte Rhody. »Du solltest weniger verkrampft sein, weißt du. Früher oder später passiert das jedem mal, altes Haus.«
    Passiert was jedem mal?, fragte sich Theodora mit gerunzelter Stirn, und sie zuckte die Achseln in Samuels Richtung, der ebenfalls die Achseln zuckte.
    Rhody ging, und Elkanah knallte mit Wucht die Tür hinter ihm zu. Er machte auf dem Absatz kehrt, ignorierte Samuel und Theodora und stapfte zurück in die Küche. Sie hörten, wie er Teller in den Geschirrspüler knallte. Irgendetwas zerbrach. Elkanah fluchte.
    »Was für ein Temperament«, bemerkte Theodora, an sich selber gerichtet, und begab sich zurück in ihr Zimmer, zu ihren Trost versprechenden Hausaufgaben.
    Samuel folgte ihr. Auf dem Bett, wo er es zurückgelassen hatte, lag immer noch sein Mathebuch. Steif nahm er daneben Platz.
    Das Scheppern in der Küche verstummte. Sie hörten, wie Elkanah ins Wohnzimmer ging und Klavier zu spielen begann. Seine plumpen Finger wanderten sanft über die Tasten, hinauf und hinunter. Es war etwas, das er häufig nachts tat, wenn alle anderen schon zu Bett gegangen waren.
    Jetzt fing er an zu singen. Elkanahs Stimme flog die Stufen hinauf, als wäre sie in einem Windkanal gefangen.
    Eine Jungfer schön wie der Mai ich sah
    Und danach mein einzig Begehren es war
    Einen Tag lang und dazu noch ein Jahr
    Den Weg in ihr Herz zu finden!
    Theodora stöhnte. Das war genau die Sorte von schrecklichem Lied, die zu Elkanah passte. Ganze Bücher voller solcher Lieder steckten in der Vertiefung unter dem Klavierhocker.
    »Jetzt reicht’s«, sagte sie zu Samuel.
    Sie wollte gerade mit dem Fuß die Tür zutreten, als unten ein Schlüssel im Schloss umgedreht wurde – Hannah kam endlich nach Hause. Samuel sprang erleichtert auf und stürmte aus dem Raum. Er liebte es, Hannah von seinem Schultag zu erzählen, was er unternommen hatte, was irgendwelche Leute erzählt hatten. Mit Hannah zu reden war, als verstellte er den Schärferegler an einem Mikroskop – verschwommene, selbst unsichtbare Dinge erhielten auf einmal eine Form und einen Sinn.
    Würde Meere sie nehmen
    Sie zu sehn ließ mein Sehnen
    Mich Ozean und Wellen bezwingen!
    Hannah stand im Flur und zupfte an ihrem Schal, der über und über mit blauen Pfauen gemustert war. Elkanah nahm sacht die Finger von den Klaviertasten, ließ sie in der Luft verharren, drehte sich um und sah ihr durch die Tür entgegen.
    Doch wenn einsam ich blieb
    O mein schneeweißes Lieb
    Wollt dies Leben
    Ich nicht länger leben!
    Elkanah hatte große braune Augen, feucht und gefühlvoll wie die eines Rehkitzes. Jetzt suchten sie Hannahs Gesicht, mit solcher Liebe und Angst und Schmerz im Blick, dass Samuel zutiefst erschrak und sich abwandte, eine Hand am Geländer, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
    Kapitel 8
    Philadelphia
    Irgendetwas war passiert. Das war Theodoras erster Gedanke, als sie von der Schule kam, um die letzte Straßenecke bog und die

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