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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Dubosarsky
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Menschen.
    Theodora lernte die Texte zu America the Beautiful, My Country ’ Tis of Thee und The Star Spangled Banner auswendig. Oh Maryland, my Maryland und Land of the Silver Birch lernte sie ebenfalls, weil man nie wusste, ob man es nicht irgendwann brauchen konnte. Sie wünschte sich, endlich mit dem Packen anfangen zu können. Sie freute sich darauf, auszuwählen, was sie mitnehmen und was sie hierlassen würde; den ausgesonderten Bauschutt ihres kurzen Lebens.
    Eigentlich sollte Ende Juli alles so weit sein, aber der Mai verging, ohne dass Elkanah sich auf einen genauen Termin festgelegt hatte. Tatsächlich schien er sich auf gar nichts wirklich festlegen zu wollen. Er konnte keine einzige ihrer Fragen beantworten: Welche Fluglinie würden sie nehmen? Wo würden sie wohnen? Konnten sie all ihre Bücher mitnehmen? Und das war nur der Anfang – es gab Hunderte von Dingen, die Theodora wissen wollte.
    Aber Elkanah wischte alles beiseite, mit einem pompösen › Überlasst den Kleinkram mir! ‹. Theodora wusste genau, was sie davon zu halten hatte. Niemand, der einigermaßen bei Verstand war, würde den Kleinkram jemandem wie Elkanah überlassen!
    Manchmal hatte Theodora den Eindruck, sie würde auf den Mond umziehen, so weit weg, so fremd und doch so vertraut kam Amerika ihr vor. Dennoch, Theodora war von Natur aus optimistisch – ein Mensch kann fast überall leben, sagte sie sich. Wie eine Kakerlake. Man musste sich nur ein wenig anpassen.
    Samuel konnte Theodoras Zuversicht bezüglich der Vereinigten Staaten von Amerika nicht teilen. Er glaubte nicht daran, überhaupt irgendwo überleben zu können, oder dass Menschen ihn willkommen heißen und sich um ihn kümmern würden. Nach Elkanahs Ankündigung erwachte Samuel jeden Morgen mit verspannten Armen und Beinen, mit Druck auf dem Magen von üblen Träumen.
    Er besuchte Elias jetzt öfter. Fast jeden Nachmittag kehrte er auf dem Nachhauseweg von der Schule bei ihm ein, wie um zu überprüfen, ob der alte Mann noch am Leben war.
    Elias erwartete ihn regelmäßig. » Komm rein und setz dich, ich mach dir was zu trinken«, sagte er, wenn Samuel verloren vor der Tür stand, und war im nächsten Moment in der Küche zugange, wo er Milch aufwärmte und ihnen beiden einen Teller mit runden Keksen füllte.
    Sie saßen zusammen im Wohnzimmer oder, wenn es nicht zu kalt war, auf dem Balkon, wo sie schweigend aßen und tranken und Backgammon spielten. Sie redeten nur wenig – über die Schule, über Theodora, über das Leben in tiefen, fernen Ozeanen. Nur über Philadelphia redeten sie nicht, vielleicht, weil beide sich vor dem fürchteten, was sie damit heraufbeschwören mochten. Stattdessen spielten sie weiter Backgammon.
    Stunden, Tage, Wochen vergingen. Die Tage wurden kürzer, und Samuel spürte, wie die Wände der Welt ihn einzuzwängen begannen; Schlüssel, die sich in ihren Schlössern herumdrehten. Wie sehr er sich wünschte, Elias möge reden! Und nicht nur über Philadelphia. Da waren noch diese anderen Dinge. All diese verborgenen Dinge. Bis zur bevorstehenden Reise nach Amerika hatte Samuel das Schweigen seines Großvaters, dessen Vergangenheit betreffend, in einer Art melancholischer Gelassenheit ertragen.
    Aber jetzt, da sie fortziehen würden – vielleicht für immer –, in dieses riesige, gefährliche Land auf der anderen Seite des Pazifiks, spürte er Panik in sich aufsteigen. Vielleicht würde er Elias nie wiedersehen! Vielleicht würde er nie etwas herausfinden, nie etwas wissen! Erzähl’s mir, erzähl’s mir, schrie er Elias in Gedanken an, aber sein Mund formte diese Wort nie.
    » Du hast bald Geburtstag, oder, Samuel?«, fragte Elias eines Nachmittags. Sie standen auf Elias’ Balkon und beobachteten, wie die Abenddämmerung sich auf den Hafen senkte. Wie blass er aussieht, dachte Elias.
    Samuel nickte überrascht. Das stimmte.
    » Nächsten Mittwoch.«
    Sein Geburtstag! Dabei schien der von Theodora noch gar nicht lange her zu sein. Es war beinahe so, als hätte er sich schlafen gelegt, als hätte er nicht mitbekommen, wie die Zeit verstrichen war.
    » Dein zwölfter Geburtstag«, sagte Elias. » Zwölf Jahre alt.« Die Worte fielen langsam, aus dem Schatten heraus.
    » Ja.«
    » Und wie werden wir das feiern?«, fragte Elias.
    » Ich weiß nicht«, sagte Samuel. » Ich schätze, wir gehen in ein Restaurant. Kann aber auch sein, dass Dad was machen will, ich weiß es nicht.«
    Elias war nicht an dem interessiert, was Elkanah machen wollte.

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