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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Dubosarsky
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alle.«
    »Hör auf, deine Nägel zu kauen, Samuel«, gähnte Elkanah. Er nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht, weil er den Zucker vergessen hatte.
    »Entschuldigung.« Samuel zog den Daumen aus dem Mund und goss sich eine eigene Tasse Kaffee ein. Er mochte alles, was kräftig und bitter schmeckte. Es gab ihm das Gefühl, in einem Raum anwesend und nicht vergessen zu sein.
    Elkanah beugte sich zur Seite und zupfte Hannah am Ärmel.
    »Lass das gefälligst!« Sie schüttelte seinen Arm ab.
    Elkanah schaute erst Theodora an, dann Samuel. »Du meine Güte«, sagte er.
    Theodora ächzte. Diesen Spruch könnte Elkanah als zweite Unterschrift benutzen – › Du meine Güte ‹ .
    »Ach, Hannah!«, sagte Elkanah vorwurfsvoll.
    Theodora stand auf. Auf diese Art Konversation konnte sie an einem Sonntagmorgen gut verzichten. Sie ging langsam durch den Flur, zur Haustür hinaus und durch den kleinen Kaktusgarten, den Hannah in den letzten Monaten gehegt und gepflegt hatte. Es war Theodora ein Rätsel, wie jemand ausgerechnet Kakteen züchten konnte – solche stummen, unnachgiebigen Pflanzen. Genauso gut könnte man eine Stabheuschrecke als Haustier halten.
    Aber Hannah liebte Herausforderungen, rief Theodora sich ins Gedächtnis, während sie die kühle Morgenluft ein- und wieder ausatmete. Sie drückte die Gartentür auf und setzte sich auf den Gehsteig vor dem Haus, wo sie ihre Füße über die trockenen Abflussrinnen baumeln ließ, von Leere und Unzufriedenheit erfüllt.
    Auf der anderen Straßenseite stiegen ein paar Nachbarn in ihr Auto. Es war erstaunlich, überlegte Theodora, während ein Körper nach dem anderen in dem Wagen verschwand, wie viele Menschen auf engstem Raum Platz fanden, um sich durch eine Stadt befördern zu lassen. Wie von selbst drängte sich ihr der Gedanke an Flugzeuge auf, an Aberhunderte von Menschen, die über die Wolken getragen wurden. In einem davon würden sie, Samuel und Hannah und Elkanah bald sitzen.
    Jedenfalls ziemlich bald. Elkanah konnte nicht alles für immer auf die lange Bank schieben, er würde Entscheidungen treffen müssen. Wahrscheinlich würde Hannah ihm zuvorkommen. Sie würde die Tickets buchen, ein Haus finden, Bankkonten eröffnen, während Elkanah auf dem Sofa herumlümmelte, wo er summen und lachen und sich über Blasen an den Zehen beschweren würde.
    Theodora streckte und drehte ihren Hals, wie Randolph es ihr beigebracht hatte. Er kannte sich aus mit Muskeln und mit Massage und mit Dingen, die das Gehirn auf Vordermann brachten. Den Kopf verdreht, konnte sie den Balkon vor dem Schlafzimmer ihrer Eltern sehen, und dort stand Elias, mit ihr zugewandtem Rücken.
    Sie runzelte die Stirn. Wie überaus merkwürdig. Warum war er nicht im Gästezimmer? Das hier war jedenfalls etwas Interessantes für ihr Notizbuch, das sie ärgerlicherweise im Flur auf der Kommode hatte liegen lassen. Wie würde sie das formulieren? Zaide wollte sich oben ausruhen und ist ins Schlafzimmer von Dad und Hannah gegangen. Sie hielt inne, während ihr Gehirn nach den hebräischen Buchstaben dafür suchte. Er wirkte verstohlen. Das war genau das passende Wort. Verstohlen.
    Was, um alles in der Welt, tat er dort bloß? Sie kniff die Augen zusammen. Wie es aussah, wühlte er jetzt in Hannahs Schubladen herum. Auch wenn er Hannahs Vater war, dachte Theodora missbilligend, waren das entschieden schlechte Manieren.
    Es hat etwas Hypnotisches, jemanden zu beobachten, der sich dessen nicht bewusst ist. Als wenn man den Telefonhörer abnimmt und sich in ein fremdes Gespräch eingeklinkt findet. Der Anblick von Elias bannte sie auf die Stelle wie einen Polizisten auf einen heimlichen Beobachtungsposten. Sie bewegte sich sogar vorsichtig aus seiner Sichtlinie, für den Fall, dass er ein Geräusch hörte, ein Herbstblatt unter ihren Füßen, wie im Film, und sich plötzlich umdrehte und sie entdeckte.
    Ah – jetzt hatte er gefunden, wonach auch immer er gesucht hatte. Er nahm etwas aus der untersten Schublade: ein kleines schwarzes – Buch? Er ließ es in die Jackentasche gleiten und schloss die Schublade.
    Die Nachbarn auf der anderen Straßenseite verabschiedeten sich lautstark voneinander und starteten ihren Wagen. Aber Elias wandte sich nicht mal um. Stattdessen verließ er eilig das Zimmer, und unten blieb Theodora zurück – unwillige Zeugin eines Vorgangs, von dem sie ahnte, dass sie dessen Bedeutung lieber nicht verstehen wollte.

TEIL 3
    Kapitel 11
    Der kürzeste Tag des

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