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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Dubosarsky
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Elkanah konnte sich um sich selbst kümmern.
    » Was für ein Geschenk wünschst du dir, Samuel?«, fragte er.
    Samuel gab keine Antwort. Gleich würde er weinen. Alle möglichen Gegenstände wirbelten in seinem Gehirn umeinander, als hätte man eine Spielzeugkiste aus dem Fenster geleert. Philadelphia. Die Golden Gate Bridge und das Empire State Building und das World Trade Center und die Universal Studios. Diese großen, Ehrfurcht gebietenden Namen erfüllten ihn mit bösen Vorahnungen. Die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Bundesländer, so wurde es im Hebräischen ausgedrückt, und das klang schrecklich. Das war ein Land für Krieger. Er war klein, schwach, kein Kämpfer. Was sollte dort aus ihm werden?
    » Samuel?«, wiederholte Elias. Er beugte sich zu ihm hinüber, griff nach seiner kleinen Hand und drückte sie mit seiner eigenen.
    » Ich will nicht wegziehen«, flüsterte Samuel, als befürchtete er, Hannah könnte ihn in dem Haus vier Straßen weiter hören. » Ich will nicht nach Philadelphia.«
    Samuel schloss seine mit Tränen gefüllten Augen und lauschte dem schweren asthmatischen Keuchen des alten Mannes.
    » Es wird alles gut werden, Samuel«, sagte Elias schließlich. » Du musst dich nicht aufregen.«
    » Nein«, sagte Samuel.
    » Reg dich nicht auf. Alles wird gut. Hörst du, Samuel?«
    Elias klang drängend, beinahe wütend. Samuel öffnete die Augen. » Ja«, sagte er. » Alles wird gut.«
    Bloß glauben konnte er daran nicht.
    Kapitel 10
    Ein kleines schwarzes Buch
    An einem Sonntagmorgen, als Elkanah gerade Kaffee aufbrühte, kam Elias unangekündigt zu Besuch. Theodora war ruhelos. Wenn es an der Haustür klingelte, ließ sie ihr Notizbuch fallen und stürmte los, um aufzumachen, als hoffte sie, irgendeine wundervolle Möglichkeit würde sich ihr präsentieren, während die Tür in den Angeln zurückschwang.
    Elias lächelte, aber hinter den Brillengläsern blitzten seine Augen. Er trat ein, küsste Hannah und legte Samuel einen Arm um die Schultern. Er hatte eine Aktentasche bei sich.
    »Samuel sieht nicht besonders gesund aus, finde ich«, sagte Elias zu Hannah. »Oder?«
    »Mir geht’s gut«, protestierte Samuel.
    »Du brauchst noch eine Fahrkarte, Elias!«, rief Elkanah aus der Küche. Kaffeekochen endete bei ihm regelmäßig in einer Ferkelei, denn er erhitzte eine dreieckige Kanne direkt auf dem Ofen, wie man es im mittleren Osten tat, und verstreute dabei Kaffeepulver wie schwarzen Pfeffer kreuz und quer durch die Küche.
    »Ich werde niemals nach Amerika gehen, falls du das meinst«, antwortete Elias und setzte sich auf das Wohnzimmersofa. Weil er als Kind in Deutschland Englisch gelernt hatte, sprach Elias sehr vornehm und korrekt und setzte › werde ‹ immer an der richtigen Stelle ein.
    »Ach, Dad«, murmelte Hannah.
    »Du hast da doch einen Cousin oder so was«, rief Elkanah zurück. Freunden beschrieb er Elias in der Regel als › schwierigen Menschen ‹ .
    »Dads Cousin lebt in Los Angeles«, sagte Hannah. »Das ist ewig weit von Philadelphia entfernt.«
    »Bestimmt auch nicht weiter als Melbourne«, sagte Elkanah grimmig, als er mit einem Tablett voller Tassen ins Wohnzimmer kam. Es gab wirklich keinen Anlass für Hannah, ebenfalls schwierig zu sein. »Halt ihnen einfach deine Kreditkarte hin und spring in den nächsten Flieger.«
    »Ich habe Kopfschmerzen«, verkündete Elias, der sich plötzlich erhob. »Ich werde mich kurz im Gästezimmer hinlegen.«
    »Brauchst du ein Aspirin, Dad?«, fragte Hannah besorgt.
    Elias schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht«, sagte er überraschend scharf und schaute dann bedeutungsvoll in Richtung Samuel und Theodora. »Aber ich muss die Kinder bitten, mich auf keinen Fall zu stören«, fügte er hinzu.
    Elkanah und Hannah tauschten Blicke aus. Samuel kaute auf seinem Daumennagel.
    »Reagiert er allergisch auf mich, oder was?«, fragte Elkanah, nachdem Elias nach oben verschwunden war.
    »Ach, bitte.« Hannah war nicht besonders glücklich.
    »Na ja, es ist doch wohl reichlich merkwürdig, zu Besuch zu kommen und sofort ins Bett zu verschwinden, mehr sage ich ja gar nicht«, konterte Elkanah säuerlich, womit er, wie Theodora fand, durchaus recht hatte. Ihr selber, zum Beispiel, hätte man so etwas niemals durchgehen lassen.
    »Möchtest du einen Toast, Schatz?«, fragte Hannah sie, denn in Theodoras Augen erkannte sie einen Blick, der sie nervös machte.
    »Ich hab keinen Hunger«, sagte Theodora. »Außerdem ist die Marmelade

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