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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Dubosarsky
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schleifenden Geräusch eine Kurve nahm. Obwohl, rief sie sich in Erinnerung, der Wagen zur geringsten ihrer Sorgen zählte.
    »Elkanah«, sagte sie mit fester Stimme.
    Elkanah, der seine Beine so weit ausgestreckt hatte, wie es der Beifahrersitz erlaubte, wurde es unbehaglich. Da lag ein gewisser Unterton in ihrer Stimme.
    »Hmm?«
    Vorsichtig und verantwortungsbewusst, ließ Hannah die Straße keinen Moment aus den Augen, aber er spürte, wie sie sich auf ihn konzentrierte, jedes einzelne ihrer Moleküle.
    »Elkanah, wie geht es jetzt weiter?«
    Elkanah spielte mit den Knöpfen seiner Jacke herum.
    »Wie es jetzt weitergeht, möchte ich wissen«, wiederholte Hannah.
    »Ähm, was?«, murmelte Elkanah.
    Eine rote Ampel zwang sie zum Halten. Hannah wandte sich ihm zu und blitzte ihn an.
    »Wir ziehen nach Philadelphia, richtig?«
    »Hmm?«
    »Also, wie geht es nun weiter? Ich meine, was ist mit unserem Haus? Wir müssen es untervermieten.«
    »Oh.«
    »Und was wird aus all unseren Sachen? Ich meine, willst du das Haus möbliert lassen? Falls nicht, müssen wir uns nach einer Lagerhalle umsehen.«
    Die Ampel schaltete auf Grün. Hannah richtete den Blick zurück auf die Straße. Elkanah schüttelte erleichtert seine Schultern.
    »Ich will damit sagen, dass wir ein paar Entscheidungen treffen müssen, Elkanah.« Die Temperatur in Hannahs Stimme stieg rapide an. Nicht mehr lange, und sie würde die kritische Marke überschreiten.
    Elkanah gab keine Antwort. Der Wagen schoss über die Straße. Elkanah schloss die Augen und legte sich eine Hand auf die Stirn.
    »Ich habe leichte Kopfschmerzen«, verkündete er.
    »Oh, um Himmels willen, Elkanah!«, schrie Hannah, die endgültig die Geduld verlor. »Manchmal benimmst du dich, als würden wir gar nicht nach Amerika umziehen!«
    Hätte Hannah bloß gewusst, wie recht sie damit hatte. Elkanah benahm sich in der Tat so, als wollten sie nicht nach Amerika umziehen. Er benahm sich deshalb so, weil genau das der Fall war. Er hegte keinerlei Absicht, drei Jahre lang in Philadelphia zu leben. Er hegte auch keinerlei Absicht, überhaupt in Amerika zu leben.
    Tatsächlich war ihm niemals ein entsprechender Vertrag angeboten worden. Und selbst wenn das der Fall gewesen wäre, hätte Elkanah eine solche Vorstellung als lächerlich abgetan. In der Vergangenheit hatte er immer wieder Angebote erhalten, in diversen amerikanischen Städten zu arbeiten, ebenso in Europa, aber er hatte nie auch nur ansatzweise die Versuchung verspürte, irgendeines dieser Angebote anzunehmen. Wozu auch? Er konnte jederzeit in ein Flugzeug steigen, an einen dieser Orte fliegen und dort auftreten und sich applaudieren lassen und gut essen gehen und Kollegen treffen und dann, Gott sei Dank, konnte er ins nächste Flugzeug springen und wieder zurück nach Hause fliegen. Warum sollte irgendein Mensch, vor die Wahl gestellt, sich selbst und seine Familie zu entwurzeln, ein rundum wunderbares Land verlassen, in dem er sich bereits mehr als wohl fühlte?
    Elkanah konnte dieser Art Wanderlust nichts abgewinnen. Er stammte aus einer Familie, die über mehrere Generationen hinweg dermaßen oft gegen ihren Willen entwurzelt worden war, dass es ihm nun, nachdem er endlich einen warmen und sicheren Hafen gefunden hatte, unvorstellbar schien, wie jemand nur wegen eines Tapetenwechsels seine Siebensachen packen konnte.
    »Hannah«, setzte er an und beugte sich zu ihr hinüber.
    Elkanah hatte ihr nicht gesagt, was Rhody ihm an jenem Mittwochnachmittag über Hannah und Randolph Butcher erzählt hatte. Was bedauerlich war, denn von allein wäre sie nie darauf gekommen. Der Gedanke, irgendwer – insbesondere ihr Ehemann – könnte glauben, sie liebte einen anderen Mann, lag komplett außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Sie war nicht in Randolph Butcher verliebt – sie konnte nicht zwei Männer gleichzeitig lieben. Das war etwas, das Elkanah, obwohl er sie sehr genau kannte, nicht von ihr wusste.
    In einer Oper hätte Elkanah Randolph ein Schwert ins Herz gerammt, aber im wahren Leben war Philadelphia die viel praktikablere Idee. Die Ankündigung würde das schuldige Pärchen aufscheuchen, Hannah wäre in Tränen aufgelöst, es würde zu vorwurfsvollen Szenen kommen, zu Schuldgefühlen, Zorn, anklagend erhobenen Fingern, zugehaltenen Augen, gerauften Haaren – nicht dass Randolph davon noch viele hatte, natürlich. Es musste reichen, wenn Hannah diesen Teil übernahm.
    »Ja?«, sagte Hannah, die sich etwas abgeregt hatte, aber

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