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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Dubosarsky
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keinesfalls tränenerstickt klang.
    War jetzt der Zeitpunkt gekommen, es auszusprechen? Stand sie jetzt kurz vorm Zusammenbruch? Ah, wie sehr Elkanah sich gewünscht hatte, Randolph auf offener Straße zur Rede zu stellen und ihn niederzuschlagen, um dann, sich das Blut von den Händen wischend, davonzugehen. Er wollte, dass Hannah zusammenbrach und gestand.
    Aber es geschah einfach nicht. Randolph schien für Hannah bloß eine Nebensache zu sein, kaum der Rede wert. Sie sorgte sich nur darum, wo die Kinder zur Schule gehen würden, ob sie in Pennsylvania eine Arbeitserlaubnis erhalten würde, ob sie das Haus untervermieten sollten – nichts als Kleinkram.
    Die Sache war Elkanah ein Rätsel. Schulen und Arbeit konnte man überall finden. Liebe nicht.
    Kapitel 12
    Sonnenuntergang
    An diesem Tag verließ Samuel die Schule erst spät. Als er sich erhob, um seiner Lehrerin einen schönen Nachmittag zu wünschen und sich den Rucksack über den Rücken warf, fiel alles durch den offenen Reißverschluss heraus und zu Boden. Zuletzt waren es mehrere Minuten, die er damit verbrachte, all den Kleinkram wieder einzusammeln – Frühstücksdose, Trinkflasche, Aufgabenhefte, Ordner, Bücher aus der Bibliothek; sein Klecker-Shirt für den Kunstunterricht, die Sonnenmütze, das blaue Portemonnaie und den Nintendo, den Hannah und Elkanah ihm an diesem Morgen geschenkt hatten.
    Es fühlte sich nicht an wie sein Geburtstag. Er fühlte sich kein bisschen aufgeregt. Er fühlte sich müde. Sein Kopf schmerzte; seine Arme und Beine zitterten. Beim Einsammeln der Sachen kam er nur langsam voran. Die anderen Kinder waren verschwunden, alle Stühle standen kopfüber auf den Tischen. Auch seine Lehrerin war gegangen, würde aber zurückkommen – auf ihrem Tisch lag ein Stapel Mathehefte zum Korrigieren. Samuel versuchte sich zu beeilen. Er wollte nicht hier sein, wenn sie wiederkam – dieses freundliche, verwirrte Lächeln, und: »Noch da, Samuel? Alles in Ordnung?«
    Samuel zog den Reißverschluss zu, ein schnelles Zusammenschließen der schwarzen Zähne, und lud sich den Rucksack auf den Rücken.
    Als er am Schultor ankam, suchte er nach Theodora, mit der er normalerweise gemeinsam nach Hause ging, oder doch mindestens bis zur Wohnung von Elias. Um halb vier war Theodora immer staubig und verstrubbelt – Jacke um die Hüften gebunden, die Handrücken vollgeschmiert mit Notizen in Tinte – aber immer noch strahlend und lebenslustig. Schon ihr Anblick reichte aus, sein Inneres zu entzerren, ihn vor der Zentrifuge zu retten.
    Aber heute erwartete ihn keine Theodora. Nur kurz blitzte in Samuel eine Erinnerung auf, sie war da und wieder fort wie der Kuckuck aus einer Uhr. Theodora wollte nach der Schule irgendwo hingehen, oder? Um etwas zu besorgen …
    Er überquerte die Straße am Zebrastreifen – die Schülerlotsin war immer noch da, um Kinder durch den gefährlichen Verkehr zu schleusen, mit ihrem runden A CHT u NG K INDER - Schild. Samuel fiel der breitkrempige weiße Sonnenhut auf, den sie trug; die Umrisse und das Leuchten brannten sich in seine Augen.
    Er bog in die Lincoln Street ein, seine Schritte fielen schwer auf den hubbeligen Gehweg. Manchmal fuhren er und Theodora diese Straße auf Rollschuhen entlang, noch zusätzlich beschleunigt durch die leichte Neigung der Strecke. Allerdings hatten Bäume ihre Wurzeln weit unter die Betonplatten des Gehsteigs ausgestreckt. Das bedeutete Bodenwellen und Lücken und führte, hin und wieder, zu harten Stürzen, zerschundenen Knien und Ellbogen und blauen Flecken.
    Ob sie ihre Rollschuhe wohl mit nach Philadelphia nehmen würden?, fragte er sich, und plötzlich spürte er den Fahrtwind Hunderter mutiger und starker amerikanischer Kinder mit erschreckender Geschwindigkeit an sich vorbeirauschen, die ihm zujohlten, bevor sie zwischen entfernten, mit Wolkenkratzern besetzten Hügeln verschwanden.
    »Samuel!«
    Samuel blieb stehen; schwindelig, von Übelkeit erfüllt. Hatte jemand seinen Namen gerufen?
    »Samuel! Hier drüben!«
    Sein Rucksack glitt ihm langsam von den Schultern. Samuel blinzelte in das kräftige westliche Sonnenlicht, an den dicken, knolligen grauen Ästen der Feigenbäume vorbei. Jemand stand in den Schatten. Er kannte diese Stimme. Er liebte diese Stimme.
    »Bist du das?«, fragte er unsicher.
    Elias stand neben einem grünen Auto, das Samuel noch nie zuvor gesehen hatte.
    »Ja, ich bin es, Samuel«, sagte Elias. Er griff nach Samuels Rucksack und legte dem Kind einen Arm

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