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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Dubosarsky
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Tatsächlich aber war er erleichtert, dass dies nicht der Fall war. Worüber, um alles in der Welt, sollten sie miteinander reden?
    »Elkanah! Dad ist in Brisbane, das hab ich euch doch erzählt. Bei dieser Konferenz. Über Tollwut.«
    »Ah, stimmt.« Elias verzog nachdenklich die Lippen. »Na ja, dann wird er bei irgendeinem Freund sein. Mit seinen Geburtstagsgeschenken angeben.«
    Hannah bedachte ihn mit einem verzweifelten Kopfschütteln. Kannte er seinen Sohn denn überhaupt nicht? Anders als Theodora hatte Samuel nicht die Sorte Freunde, die man nach der Schule besuchte.
    »Also, wo zum Teufel steckt er dann?«
    »Hmm.«
    Elkanah fielen all die Dinge ein, die er in Samuels Alter nach Schulschluss getan hatte – in Läden herumhängen, Lutscher stehlen, Zigaretten rauchen, Waffen aus Stöckchen und Seilen herstellen, auf Bäume klettern und andere hinabstoßen, sich hoffnungslos verlieben, um sich, nach näherer Bekanntschaft, wieder zu entlieben. Er war so gut wie nie direkt nach Hause gegangen. Samuel hingegen …
    »Ich rufe besser in der Schule an«, sagte Hannah. »Vielleicht findet da irgendwas statt, das ich vergessen habe.«
    Der Lehrer, mit dem Hannah sprach, konnte sich nicht erinnern, Samuel beim Verlassen der Schule gesehen zu haben, inzwischen aber war er ganz sicher nicht mehr dort. Immerhin wurde es draußen bereits dunkel.
    Hannah legte den Hörer auf. Eine kleine geballte Welle Panikgefühl strömte von ihrem Magen aus.
    Es klingelte an der Tür. Hannah hetzte durch den Flur. Das war er! Sie riss die Tür auf.
    »Na, wie läuft’s?«, sagte Rhody. Er grinste und nahm seinen Hut ab. »Macht hoffentlich nichts aus, wenn ich so unangemeldet reinplatze?«
    »O Gott!«, sagte Hannah. »Ich dachte, du wärst Samuel.«
    »Was, zum Teufel, willst du hier?«
    Elkanah war vom Sofa aufgesprungen und stapfte auf seinen ehemaligen Schwiegervater zu, so laut und bedrohlich, wie er es sonst ausschließlich für Wutausbrüche auf der Bühne reservierte.
    »Samuel?« Rhody ignorierte Elkanah einfach und trat ein, unbeeindruckt von der wenig herzlichen Begrüßung. Vielleicht war er daran gewöhnt. »Nein, ich bin es nur, Liebling. Ich dachte, während ich hier für ein Interview in Sidney bin, sollte ich die Gunst der Stunde nutzen und rasch noch mal bei euch reinschauen, bevor ihr euch nach Amerika auf die Socken macht.«
    »Ich will dich in meinem Haus nicht sehen!«, donnerte Elkanah.
    »Elkanah, ich bitte dich – was ist denn in dich gefahren?«, zischte Hannah ihn an. »Komm rein, Rhody, bitte. Tut mir leid. Wir sind nur besorgt wegen Samuel. Er sollte längst zu Hause sein. Er hat heute Geburtstag, wusstest du das?«
    Theodora, von den lauten Stimmen angelockt, kam die Treppen heruntergerannt, um ihren Großvater mit einem Kuss zu begrüßen. Unter ihrem Pulli zog sie ein Notizbuch hervor.
    »Hallo!«, sagte sie überrascht. »Bist du wegen Samuels Geburtstag gekommen?«
    Hannah wandte sich ihr zu. »Theodora, wo steckt Samuel? Warum ist er nicht mit dir nach Hause gekommen?«
    »Ich musste noch sein Geschenk kaufen«, protestierte Theodora. »Ich hab ihm gesagt, dass ich nicht auf ihn warten würde.«
    »Aber wo steckt er dann?«
    Theodora zuckte die Achseln. Das hatte sie sich auch schon gefragt. »Samuel geht nach der Schule nie irgendwohin«, sagte sie. »Es sei denn, wir besuchen Zaide.«
    »Also ist er dort!«, stieß Rhody aus, so laut, als hätte er mit diesem einen beiläufigen Geistesblitz soeben alle Probleme der Welt gelöst.
    »Nein ist er nicht!«, gab Hannah ebenso laut zurück. »Tut mir leid, Rhody, aber Elias ist gar nicht hier. Er ist in Brisbane.« Und sie verbarg den Kopf zwischen den Händen, überwältigt von einem Gefühl drohenden Verderbens, das sie wie aus dem Nichts ansprang.
    Elkanah fasste ihr sanft unters Kinn. »Willst du, dass wir die Polizei verständigen, Liebling? Das kann schließlich nicht schaden, oder?«
    Elkanah hielt es keinesfalls für notwendig, dass sie die Polizei verständigten. Er war sich absolut sicher, dass Samuel binnen der nächsten halben Stunde auftauchen würde, eine völlig nachvollziehbare Geschichte im Gepäck. Aber Hannah sah fürchterlich aus, und das machte ihm Angst. Sie musste etwas tun, eine höhere Autorität beschwören.
    »Vielleicht solltest du Randolph anrufen«, schlug Theodora vor, weil sie helfen wollte. »Der arbeitet bei der Polizei.«
    »Wen?«, fragte Rhody hinterhältig, mit erhobenen Augenbrauen. Genau wie Elkanah glaubte er

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