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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Dubosarsky
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Schuhe weggekickt und lag flach auf dem Rücken. Die schwarzen Socken lugten über die Sofalehne hinweg.
    »Bleibt Großvater über Nacht?«, fragte Theodora.
    »Weck ihn bloß nicht auf!«, sagte Elkanah erschreckt. »Lass ihn einfach in Ruhe, okay?«
    Theodora folgte ihnen in die Küche. Elkanah füllte den elektrischen Wasserkocher und Hannah vergrub, sobald sie am Tisch saß, ihr Gesicht zwischen den Händen.
    »Dad«, sagte Theodora. »Du weißt doch noch, diese Klamotten, die du mir aus Perth mitgebracht hast?«
    »Um Himmels willen, Theodora«, murrte Elkanah, der lange brauchte, bis er aus der Fassung geriet. »Besorg Hannah bitte irgendwoher einen Keks oder so was, ja?«
    Theodora zog die Augenbrauen hoch, beugte sich vor und öffnete einen der Küchenschränke. Hannah aß nie Kekse, wusste Elkanah das denn nicht? Allerdings gehörte Elkanah zu den Menschen, welche die Wirklichkeit, sobald sie ihnen nicht passte, unter Umständen einfach ausblendeten; eine Strategie, die sich erstaunlich oft als erfolgreich erwies.
    Hannah stöhnte. »Er ist tot, er ist tot, ich weiß, dass er tot ist.«
    Falls er tot ist, dachte Theodora, dann stirbt Hannah auch. Aber ich glaube nicht, dass er tot ist.
    Pearl legte den Telefonhörer auf und blickte zu Bea, die die Scherben einer Zuckerschale aneinanderklebte.
    »Das war Theodora«, sagte sie.
    »Gibt’s was Neues?«, fragte Bea angespannt, denn sie mochte Samuel sehr. Elkanah hatte sie von der Polizeistation aus angerufen und ihnen von seinem Verschwinden berichtet, nur für den Fall – so unwahrscheinlich der auch sein mochte –, dass Samuel sich an sie wenden würde.
    »Sie hat etwas ganz Merkwürdiges gesagt«, antwortete Pearl langsam. »Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll.« Sie nahm neben Bea auf einem Stuhl Platz. »Sie sagte, ein paar von ihren Anziehsachen würden fehlen.«
    »Und?« Bea klang wenig beeindruckt.
    Bea war die Meisterin des Einwortsatzes, monoton ausgesprochen, mit unbewegtem Gesicht.
    »Na ja«, sagte Pearl. »Sie denkt, dass Samuel sie genommen haben könnte.«
    Bea legte die Tube mit dem Kleber hin. »Warum?«, was bedeutete: › Warum, um alles in der Welt, sollte Samuel Klamotten von Bea einpacken, was für eine lächerliche Idee, aber typisch Theodora, so etwas zu sagen, warum, um alles in der Welt, hörst du ihr überhaupt noch zu? Stimmt was nicht mit dir? ‹
    »Na ja«, sagte Pearl, »es geht nicht nur um Klamotten, weißt du. Ihr Reisepass ist ja auch verschwunden, erinnerst du dich?«
    »Ah«, sagte Bea.
    »Und sie glaubt, dass Elias ihn hat«, beendete Pearl die Ausführungen. »Sie glaubt, ihn letztes Wochenende dabei beobachtet zu haben, wie er ihn eingesteckt hat. Verstehst du?«
    Eine Minute lang saßen Pearl und Bea schweigend nebeneinander. Das einzige Geräusch im Raum kam aus einem blauen Käfig, der über dem Kühlschrank hing und in dem ein Zebrafinkenpärchen unter unablässigem Piepen wie von einem Videospiel von Stange zu Stange hüpfte.
    »Hat sie das auch Dad erzählt, oder Hannah?«, fragte Bea endlich.
    Pearl schüttelte den Kopf.
    »Ich glaube, sie weiß nicht, was sie tun soll«, sagte Pearl. »Sie klang so – aufgewühlt.«
    Hätte Bea aufgeschaut, so hätte sie gesehen, wie Pearls Blick hinter den Brillengläsern weich wurde. Dachte sie an das winzige stille, klaglose Bündel, beiseitegeschoben, von Fremden im Krankenhaus in ein Hasendeckchen gewickelt, um weit, weit davongeflogen zu werden, damit andere Hände es ernährten und liebkosten?
    Pearl erhob sich vom Stuhl. »Ich fliege sofort nach Sydney«, sagte sie, kurzentschlossen. »Es geht ein Flug um neunzehn Uhr dreißig, das ist der, den Elkanah immer nimmt. Es könnte sein, dass sie mich braucht.«
    Der Flug nach Samoa ging erst am nächsten Morgen. Elias wäre lieber sofort abgereist, bevor irgendwer auch nur ahnte, was hier geschah, aber es war nicht zu ändern. Er konnte sich diese Gelegenheit, Samuel mit sich zu locken, nicht entgehen lassen. Also würden er und Samuel die Nacht in einem Motel verbringen müssen.
    Elias fand eines nahe der Startbahn des Flughafens. Tatsächlich war es so nahe, dass man das Kerosin riechen konnte, und die Fenster klapperten, wann immer einer der großen Jets abhob und in den Himmel tauchte. Ihr Zimmer hatte ein Doppelbett mit dicken gelben Überdecken, die gefältelt zu Boden fielen, als wären sie aus Stein gemeißelt wie die Robe einer römischen Statue. Elias saß auf der dem Fenster abgewandten

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