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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Dubosarsky
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vorhabe, Samuel«, sagte Elias, indem er seine Hand auf die von Samuel legte. »Ich will dir keine Angst einjagen. Ich will dich nicht zu etwas überreden, das du eigentlich lieber nicht tun würdest.«
    »Du könntest mir keine Angst einjagen«, murmelte Samuel, wohlig zufrieden von seinem Getränk. »Wie solltest du mir jemals Angst einjagen?« Er liebte Elias so sehr. Elias würde ihm niemals wehtun.
    »Du willst nicht nach Amerika, richtig?«, fragte Elias. »Das stimmt doch, Samuel, oder?«
    Samuel schüttelte den Kopf. Tränen stiegen ihm in die Augen.
    »Nein. Ich hab es Mama gesagt. Ich hab’s ihr gesagt.«
    »Ja, natürlich.« Elias nickte. »Gut, dann sage ich dir jetzt hiermit, dass du nicht musst. Nicht, wenn du es nicht willst.«
    »Und ob ich muss«, sagte Samuel. »Natürlich muss ich. Was bleibt mir denn anderes übrig?«
    »Nun ja«, sagte sein Großvater zögerlich. »Ich habe einen Plan.«
    »Einen Plan?«
    »Ich hab einen Plan«, wiederholte Elias. »Mein Plan ist, dass du und ich für eine Weile verschwinden werden.«
    »Verschwinden?« Samuel fühlte sich begriffsstutzig. Er verstand nicht. Aber Elias war sehr geduldig.
    »Nur für eine Weile. Damit sie dich nicht nach Amerika mitnehmen können. Anschließend kommen wir selbstverständlich zurück. Danach.«
    »Wohin denn verschwinden?«
    »Tja …« Elias schaute sich rasch um, ob niemand sie belauschte, als wollte er im nächsten Moment eine Waffe oder ein Bündel Geldscheine hervorzaubern. Er senkte seine Stimme. »Ich hab mir da etwas ausgedacht. Einen Ort, auf den keiner kommen wird. Samoa.«
    Samoa. Samuel ließ seine Lippen das Wort nachbilden. Samoa. Wie konnte er, Samuel Cass, nach Samoa gehen? Wo lag Samoa überhaupt?
    »Robert Louis Stevenson ist dort gestorben«, sagte Elias, als hätte er Samuels Gedanken gehört. »Du weißt schon, der Mann, der Die Schatzinsel geschrieben hat. Weißt du noch, wie ich dir die Geschichte vorgelesen habe? Jetzt können wir uns anschauen, wo der Mann gelebt hat. Es ist eine wunderschöne Insel. Ich war schon öfter dort. Wir können sein Grab aufsuchen.«
    Samuel leckte sich über die trockenen Lippen. Die Geräusche des Restaurants – die Musik, Kinder, murmelnde Erwachsene – erfüllten seine Ohren immer lauter. Robert Louis Stevenson. Das war eines dieser Bücher, die Elias ihm laut vorgelesen hatte. Eine dieser Abenteuergeschichten, die machten, dass Samuel sich täppisch fühlte, ängstlich, unzulänglich. Was würde er tun, wenn er gekidnappt oder auf ein Piratenschiff gesteckt würde?
    »Ich will sein Grab nicht sehen!«, rief Samuel, von plötzlicher Angst erfüllt. »Ich will von gar niemandem das Grab sehen!«
    Elias beugte sich zu ihm vor, ein Scherenschnitt. Draußen, hinter den großflächigen Fenstern, war die Dämmerung angebrochen. Autoscheinwerfer leuchteten auf.
    »Samuel, Samuel«, sagte Elias in dem Versuch, ihn zu beruhigen. »Du musst da nicht hingehen. Du musst nirgendwo hingehen. Es war nur eine Idee, mehr nicht.«
    Ein Frösteln überlief Samuel. Es war so kalt. Er zitterte erneut, in seinem Mund schlugen die Zähne aufeinander. Samoa.
    »Du meinst, wenn wir nach Samoa gehen, muss ich nicht nach Philadelphia?«
    »Wenn wir für eine Weile nach Samoa gehen«, antwortete Elias, »können sie uns nicht finden. In Samoa werden sie niemals nach uns suchen. Bis man uns entdeckt hat, wird es für Philadelphia zu spät sein. Dann kehren wir nach Hause zurück. und alles wird wieder sein wie zuvor.«
    Samuel spürte, wie sein Großvater ihm die Haare aus der Stirn strich.
    »Also gut«, sagte Samuel nach einer Weile. Er schob das Getränk von sich. »Solange wir uns nicht sein Grab angucken müssen.«
    Er schloss die Augen und kuschelte sich wie ein kleines verängstigtes Geschöpf aus dem Wald gegen die Brust seines Großvaters. Konnte das wahr sein? Würde er Philadelphia niemals kennenlernen? Würde es bloß ein Wort bleiben, das mit P begann, mit A endete und mit zehn Buchstaben dazwischen?
    Kapitel 14
    Ein Hemd mit lila Blumen
    Rhody, den die Nachrichten rasch gelangweilt hatten, hatte zu einer Quizshow umgeschaltet und sich dabei einen neuen Drink eingeschüttet. Theodora öffnete eine Tüte ungesalzener Cashewnüsse, die sie in eine Schale füllte und ihm bedeutungsvoll unter die Nase stellte.
    »Jede Menge Eiweiß«, bemerkte sie, »und leicht verdaulich«, obwohl sie nicht wusste, ob diese letzte Eigenschaft zutraf oder nicht. Aber Rhody zeigte an den Nüsschen ohnehin kein

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