Der kuerzeste Tag des Jahres
Interesse. Er war voll und ganz auf die Quizfragen konzentriert, auf die er die Antworten kampfeslustig herausbrüllte.
»Alles Schlafmützen«, erklärte er Theodora mit einem zufriedenen Lachen. »Die kennen nicht mal die chemische Zusammensetzung von einem Stück Seife!«
Theodora, die selbstredend über diese Kenntnis verfügte, sich aber keine falschen Hoffnungen bezüglich anderer Leute machte, zuckte nur die Achseln und schnappte ihre Tasche, um nach oben zu gehen. Sie machte sich Gedanken um Samuel. Sicherlich würde er bald auftauchen, es würde an der Haustür klingeln, während ihre Eltern auf dem Polizeirevier waren. Er würde irgendeine vernünftige Begründung parat haben – eine zusätzliche Mathestunde, die er vergessen hatte, oder ein Portemonnaie, das er auf der Straße gefunden und sofort zu dessen Besitzer gebracht hatte. Sie würden gemeinsam Essen gehen, und alles wäre wieder in Ordnung.
In ihrem Zimmer angekommen, schob sie die Tasche unters Bett und knöpfte den Rock ihrer Schuluniform auf. Sie mochte keine Röcke – die zogen ihre Taille nach unten und hatten schlecht angebrachte Taschen; der Wind wirbelte sie hoch. Im Restaurant wollte sie sowieso etwas Besonderes tragen. Etwas, das sie normalerweise nie anzog.
Sie beschloss, in neue Jeans zu schlüpfen und das Hemd zu tragen, das Elkanah ihr von seiner letzten Reise nach Perth mitgebracht hatte – die Jeans waren ziemlich normal, aber das Hemd war über und über mit lila Blüten bedruckt, und ihr hatte das Gefühl gefallen, das es auf der Haut hervorgerufen hatte.
Sie kniete sich hin, zog die Schubladen auf und durchwühlte suchend die Stapel unordentlich gefalteter Klamotten. Hemden, Hosen und Pullis drückte sie bündelweise beiseite. Sie wurde ungeduldig. Wo waren die Sachen? Sie hatte sie noch kein einziges Mal getragen, in der Wäsche konnten sie also nicht sein.
Theodora stand auf, die Knie wund von dem rauen Boden. Sie verließ ihr Zimmer und nahm langsam die Treppen nach unten, das Gesicht in Falten gelegt wie ein verwirrter Jagdhund.
Rhody hatte Jeopardy! weggezappt und schaute sich jetzt Fußball an, mit ähnlich lautstarker Beteiligung. Theodora zögerte kurz, wie um etwas zu sagen, aber ihr Mund blieb verschlossen. Stattdessen setzte sie sich aufs Sofa und konzentrierte sich auf den Fernsehbildschirm. Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren.
Die Sportnachrichten wurden von einer hektischen Vorabendserie abgelöst, und Rhody trank sich in eine Art selbstvergessene Starre. Theodora musterte ihn aus dem Augenwinkel und dachte an den Film, den sie in der Schule über Emus gesehen hatten. Wie der männliche Emu auf den großen, zerbrechlichen, lilafarbenen Eiern saß, völlig weggetreten, wie tot über seiner noch nicht ausgebrüteten Familie zusammengesackt, der ihn umgebenden Welt so entrückt, dass man ihn anheben und wieder runterfallen lassen konnte, ohne dass er es bemerkte. Man konnte all seine Eier stehlen, dachte Theodora traurig, und erst wenn er wach wurde, würde er bemerken, dass er keine Kinder mehr hatte.
Sie hörte den Wagen draußen einparken und stürmte durch den Flur, um die Haustür aufzuwuchten. Elkanah und Hannah stiegen gleichzeitig links und rechts aus dem Fahrzeug, wie Spielzeugsoldaten in einer Szene aus dem Nussknacker . Theodora drehte den Türknopf mit beiden Händen um, abwartend.
»Schätzchen«, sagte Elkanah und umarmte sie, »ist er nicht hier?«
Theodora schüttelte den Kopf. »Was haben sie denn gesagt?«, fragte sie.
»Nicht viel«, gab Elkanah zurück, und jetzt sah selbst er beunruhigt aus. »Du weißt schon, einfach noch eine Weile abwarten.«
»Grundgütiger«, sagte Hannah beim Reinkommen. Sie zog ihren Mantel aus, hängte ihn säuberlich an die Flurgarderobe, und dann stand sie dort und rieb sich den Nacken.
»Ruf deinen Vater an«, sagte Elkanah.
»Er ist in Brisbane«, stöhnte Hannah. »Hab ich dir doch gesagt. Behältst du dir überhaupt irgendwas von dem, was ich dir sage?«
»Na gut, aber wo in Brisbane?«, beharrte Elkanah. »Hast du keine Telefonnummer? Du musst mit ihm sprechen.«
»Oh, ich weiß es nicht, ich hab ihn nicht danach gefragt. Da fährt er doch immer hin. Zu irgendeinem Freund.«
Hannah schien an der Wand zu kleben, die Augen geschlossen, ihr schmales Gesicht knöchern und von violetten Venen durchzogen.
»Komm und setz dich hin«, drängte Elkanah sie. »Ich mach dir einen Tee.«
Rhody schlummerte tief und fest auf der Couch. Er hatte seine
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