Der Küss des schwarzen Falken
geritten war.
Beeil dich, Rand, bitte, beeil dich, flehte Grace innerlich. Der Gedanke, dass ihm etwas zustoßen könnte, war ihr unerträglich. Sie versuchte der beginnenden Panik Herr zu werden, indem sie sich sagte, dass Rand mit seiner Erfahrung wie kein Zweiter wusste, was er tat. Andererseits genügte ein Fehltritt seines Pferdes, dass er stürzte und sich dabei verletzte. Ihr Magen zog sich zusammen, doch sie sagte sich immer wieder, dass Rand nichts geschehen werde.
Sie liebte ihn. Ja, es stimmte: Sie liebte ihn wirklich. Warum hatte sie es ihm nur nicht gesagt, bevor er losgeritten war? Jetzt stand sie hier mit ihrem Pferd, hielt krampfhaft die Zügel umklammert und wartete eine endlose Zeit.
“Rand, wo bleibst du?”, murmelte sie angespannt. Als habe er ihre Frage gehört, kam Rand um den Felsvorsprung geprescht. Links und rechts spritzte das Wasser hoch, das den Boden schon vollständig bedeckte. Eine klein gewachsene, braune Stute galoppierte neben ihm her, die Augen erschreckt aufgerissen. Sie hatte die Schlinge des Lassos um den Hals, dessen anderes Ende Rand an seinem Sattelknauf festgebunden hatte.
Hinter ihnen, den Kopf stolz emporgereckt und mit flatternder Mähne, kam der Leithengst, ein prachtvolles Tier, um einiges größer, als Wildpferde es normalerweise waren, und mit pechschwarz glänzendem Fell. Er sah abgemagert, aber nicht verhungert aus. Grace glaubte Empörung in seinen Augen zu erkennen, dass man ihm seine Stute wegnehmen wollte, und die Entschlossenheit, sie sich zurückzuholen. Hinter dem Hengst folgten drei weitere Stuten und – sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen – zwei Fohlen.
Rand machte ihr ein Zeichen, dass sie sich der Herde anschließen und ihnen allen folgen sollte. So lenkte sie ihre Stute auf die Seite und wendete, als der letzte der Mustangs an ihr vorbei war. Weder der Leithengst noch die anderen Tiere schienen Notiz von ihr zu nehmen.
Der Zug bewegte sich rasch vorwärts. Der Herdeninstinkt hielt die Tiere eng zusammen. Es goss in Strömen, als sie die Stelle erreichten, wo ihr Aufstieg aus dem Canyon begann. Grace wusste, dass sie jetzt keine Zeit mehr zu verlieren hatten. Denn bald würde der Untergrund so weit aufgeweicht sein, dass man nicht mehr Fuß fassen könnte.
Rand ritt vorneweg und zog die Stute, die er eingefangen hatte, hinter sich her. Das Tier scheute am Beginn des schmalen Pfads, der steil hinaufführte. Der Leithengst wieherte laut auf und machte ein paar Schritte rückwärts. Als Rand die Stute mit festem Griff gepackt und ein Stück weitergezogen hatte, folgte er und mit ihm die ganze Herde. Es kostete Grace die letzte Kraft, ihr Pferd hinter den anderen den Weg hinauf anzutreiben. Ihre Beinmuskeln schmerzten schrecklich, aber sie war sich darüber im Klaren, dass sie nicht nachlassen durfte. Wenn sie jetzt nicht durchhielt und aus dem Sattel fiel, wäre alles umsonst gewesen.
Sie blickte nach vorn zu Rand, der es ungleich schwerer hatte. Er hatte obendrein noch die widerspenstige Stute zu führen. Langsam, Schritt für Schritt arbeiteten sie sich den gefährlich abschüssigen und schlüpfrigen Pfad hinauf. Mit geblähten Nüstern wich der Hengst nicht von der Stute, die man ihm gestohlen hatte. Der Geruch von nassem Leder und Pferden stieg Grace in die Nase. Der Regen schlug ihr ins Gesicht, und dicke Tropfen rannen ihr am Körper herunter.
Ausgerechnet an der Stelle, an der sich der Pfad verengte und es nur wenige Handbreit zum Abgrund waren, rutschte eines der Fohlen weg. Für einen Augenblick sah es so aus, als könne es sich mit seinen noch etwas ungelenken Beinen nicht mehr auf dem Pfad halten. Grace musste sich auf die Lippen beißen, um nicht laut aufzuschreien. Doch im letzten Moment fing es sich wieder, rappelte sich auf und setzte seinen Weg fort.
Das Gewitter war näher gekommen. Immer deutlicher war das Krachen des Donners zu hören, und erste heftige Böen erreichten sie. Grace beging den Fehler, in den Abgrund zu sehen und erstarrte. Wo sie gerade eben noch gestanden hatten, schäumte schon das Wasser. Hätten sie auch nur eine kleine Weile länger gebraucht, wären sie alle, Mensch und Tier, verloren gewesen und jämmerlich ertrunken. Sie biss die Zähne zusammen, zwang sich, nach vorn zu sehen, und konzentrierte sich wieder auf den Weg, was schwierig genug war, da der Regen ihr fast die Sicht nahm und der Weg immer schlechter zu erkennen war. Sie war so sehr damit beschäftigt, ihre Stute auf dem unsicheren
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