Der Küss des schwarzen Falken
hatte er Neffen und Nichten. Das waren Dinge, mit denen er, bis er diesen Brief erhalten hatte, nie etwas zu tun gehabt hatte. Seitdem stürmten Gedanken auf ihn ein, gegen die er sich nicht hatte wappnen können.
Könnte es stimmen, was Grace gesagt hatte, dass sich Seth und vielleicht sogar Lizzie noch an ihn erinnerten? Dass sie manchmal an ihn dachten, auch wenn sie in der Annahme lebten, dass er bei dem Unfall umgekommen war, so wie er es von ihnen angenommen hatte? Und wenn er sie fand, würden sie ihn in ihrem neuen Leben willkommen heißen? Oder würden sie sich von ihm abwenden? Immerhin war er der Älteste von ihnen. Wäre es da nicht seine Aufgabe gewesen, sich zu vergewissern, ob sie nicht doch noch lebten, und sich dann um sie zu kümmern?
Regentropfen, die ihm auf die Hand fielen, rissen ihn jäh aus seinen Gedanken. Verdammt! Er war mit seinen Gedanken so weit weg gewesen, dass er überhaupt nicht mehr auf den Himmel und aufziehende Wolken geachtet hatte. Jetzt braute sich das Gewitter bereits zusammen.
Rand fluchte und sah sich nach Grace um. “Wir müssen umkehren.”
Ihr bestürzter Gesichtsausdruck sprach Bände. Aber sie hielt sich an die Vereinbarung und machte keine Einwände. Sie ließ nur die Schultern hängen und nickte schwach.
Er wollte sein Pferd gerade wenden, als er mitten in der Bewegung erstarrte. Es war ganz deutlich gewesen, ein hohes Wiehern. Grace’ Stute antwortete auch darauf, während sie leicht hochstieg und mit den Vorderhufen stampfte.
Mit großen Augen sah Grace Rand an. Sie hatten die Herde tatsächlich gefunden.
“Ich will verflucht sein”, knurrte Rand.
Der Regen war unterdessen stärker geworden. Dicke Tropfen klatschten an die Felsen, und im staubigen Grund des Canyons bildeten sich die ersten Pfützen.
Ein Anflug von Angst trat in Grace’ Augen. Rand war sich trotzdem sicher, dass sie tun würde, was er sagte, selbst dann, wenn er dabei blieb, sofort zurückzureiten.
Wieder hörten sie ein Wiehern. Dieses Mal konnte er genauer ausmachen, woher es kam. Die Pferde mussten hinter dem Felsvorsprung sein, der keine hundert Meter vor ihnen die Sicht verdeckte. Es war überhaupt keine Frage, selbst wenn es gleich einen Wolkenbruch gäbe, sie mussten es versuchen. An diesem Punkt gab es kein Zurück mehr.
“Viel Zeit bleibt uns nicht”, sagte er mit gedämpfter Stimme. “Wir müssen das Überraschungsmoment für uns nutzen. Denn wenn der Leithengst Wind von uns bekommt, geht er ab in den Canyon und der Rest hinterher. Dann haben wir keine Chance mehr.”
“Was soll ich tun?”, fragte Grace.
“Warte hier und halt dich bereit.” Er langte nach dem Lasso, das an seinem Sattel hing. “Ich muss dicht genug herankommen, damit ich eine der Stuten erwische und einfange. Wenn ich sie hierher bringe, wird der Leithengst ihr hinterhergehen. Und der Rest der Herde wird ihm folgen. Das ist zwar nur eine vage Möglichkeit, aber die einzige, die uns bleibt.”
Rand beugte sich zu Grace hinüber und küsste sie. “Das wird mir Glück bringen”, sagte er und sprengte im Galopp davon.
Grace folgte ihm mit den Augen, bis er hinter dem Vorsprung verschwunden war. Sie war noch so benommen von dem überraschenden Kuss und gespannt auf das Ergebnis seines Rettungsversuchs, dass sie den inzwischen gleichmäßig herabrauschenden Regen gar nicht wahrnahm.
Er hat es doch getan, dachte sie. Nach all seinen Vorträgen und Mahnungen versucht er es trotzdem. Er war eben doch nicht der hartherzige, nüchtern kalkulierende Typ, als der er erscheinen wollte. Als es so ausgesehen hatte, dass sie unverrichteter Dinge umkehren mussten, hatte sie in seinem Gesicht deutlich Enttäuschung gesehen.
Doch sie wusste nun nicht genau, wie sie sich nach seinem Plan verhalten sollte. Er hatte ihr lediglich gesagt, sie solle sich bereithalten – wofür auch immer. Also rührte sie sich nicht von der Stelle und hielt den Blick starr auf den Felsvorsprung gerichtet, hinter dem er verschwunden war.
Der Regen wurde jetzt stärker. In der Ferne war ein Donnergrollen zu hören. Die Stute begann unruhig zu tänzeln, aber mit einer festen Hand am Zügel und unter ihrem Schenkeldruck gelang es Grace, das Pferd ruhig zu halten. Die Minuten verrannen, ihr kamen sie wie Stunden vor. Das Regenwasser tropfte von der Krempe ihres Huts, und sie beobachtete angstvoll, wie der Wasserspiegel auf dem Grund des Canyon allmählich stieg und das Wasser in den Canyon hineinströmte, in die Richtung, in der Rand
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