Der Küss des schwarzen Falken
Stute folgte. Sie hatte sich gut gehalten. Selbst der Abschnitt des Wegs in den Canyon hinunter, der enger war und nach einer Seite hin steil abfiel, während auf der anderen die Felswand aufragte, hatte ihr offenbar keine Schwierigkeiten bereitet. Sicher und entspannt saß sie im Sattel. Sie verstand sich aufs Reiten, das war deutlich zu sehen. Auch sonst machte sie eine gute Figur. Der weiße Stetson machte sich gut auf ihren rotbraunen Locken. Wach und aufmerksam, mit funkelnden grünen Augen, nahm sie alles um sie herum wahr.
Etwas Merkwürdiges ging in Rand vor. Die Unruhe, die er verspürte, hatte nicht allein damit zu tun, dass Grace ihn immer wieder aufs Neue reizte. Das natürlich auch. Doch da war noch etwas anderes. Etwas, das er nicht so genau benennen konnte und das ihn unsicher machte. Es wäre jedoch sinnlos, länger darüber nachzudenken. Ihre Beziehung hatte keine Zukunft, und alles andere hatte sich damit sowieso erledigt.
Rand wandte sich wieder seiner Aufgabe zu. Er zog die Zügel fester an und betrachtete aufmerksam den Canyon, während er langsamer ritt, damit Grace aufschließen konnte. Die Schlucht verengte sich vor ihnen. Dort ein Stück weiter mussten irgendwo die Pferde sein. Soweit er es auf der Karte gesehen hatte, war der Canyon nicht länger als acht Kilometer, aber links und rechts von hohen Steilwänden eingeschlossen. Der Pfad, auf dem sie eben geritten waren, war der einzige Weg, der hier hineinführte. Hätte man genug Zeit und ein paar Leute mehr, wäre es keine Schwierigkeit, die Herde zusammenzutreiben und die Tiere einzeln einzufangen. Aber sie hatten weder das eine noch das andere. Und obwohl sich nach wie vor keine Wolke am Himmel zeigte, spürte Rand, dass ein Wetterumschwung bevorstand. Er merkte es daran, dass sich die Luft veränderte.
“Wir haben Gegenwind. Das könnte von Vorteil sein, falls wir die Pferde finden”, sagte er, als Grace mit ihm auf gleicher Höhe war.
“Wir finden sie”, erwiderte sie. “Ich weiß, dass sie hier sind. Ich fühle es.”
Er nickte. “Auf jeden Fall waren sie hier, das steht fest. Ich habe vorhin eine Stelle gesehen, an der sie gegrast haben. Außerdem trockenen Dung.”
“Wunderbar. Worauf warten wir noch?”
“Grace.” Rand streckte die Hand aus, um sie zum Stehen zu bringen. Er ärgerte sich über sich selbst, dass er keinen anderen Zeitpunkt abgepasst hatte, um ihr zu sagen, was noch gesagt werden musste. “Sei nicht so euphorisch. Denk dran, dass du auch darauf gefasst sein musst, dass wir sie nur noch tot vorfinden, sollten sie verhungert und verdurstet oder das Opfer von Raubtieren geworden sein.”
Sie presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen und schüttelte trotzig den Kopf. “Ich weigere mich, das zu denken.”
“Du musst mit dieser Möglichkeit aber rechnen. Und du wirst auch akzeptieren, dass ich das mache, wozu ich gezwungen bin, wenn eines der Tiere verletzt oder zu schwach ist, um aus eigener Kraft den Rückweg zu schaffen.”
Grace hatte schon beim Aufbrechen gemerkt, dass Rand sein Gewehr in das Holster am Sattel gesteckt hatte. Sie schluckte, atmete einmal tief durch und nickte. “Das ist mir klar.”
Schweigend ritten sie weiter. Grace hielt sich jetzt dicht hinter ihm. Rand war sicher, dass sie daran dachte, was er ihr gerade gesagt hatte. Unter bestimmten Umständen gezwungen zu sein, ein Tier zu erschießen, war ihm immer das Widerwärtigste an seiner Arbeit gewesen. Doch so knochentrocken, wie es im Canyon war, bestand kaum eine Hoffnung für sie, wenn die Mustangs nicht irgendwo eine Wasserstelle gefunden hatten.
Der Satz von Mary fiel ihm wieder ein, den sie ihm am Abend in der Scheune gesagt hatte, bevor er sich entschlossen hatte, Grace nachzufahren und den Job doch anzunehmen. ‘Es sind gerade die hoffnungslosen Fälle, die unsere Hilfe am nötigsten haben …’ Seine Mutter musste irgendwie geahnt haben, dass dieses Unternehmen nicht nur für die Pferde, sondern auch für ihn selbst von großer Bedeutung sein könnte. Natürlich konnte man, wenn man wollte, einen Vergleich zwischen der versprengten Mustangherde und ihm ziehen. Aber er würde das nicht tun. Er führte sein unabhängiges Leben deshalb, weil es ihm so gefiel. Er hatte nie Selbstmitleid gehabt, und er brauchte auch von anderen kein Mitleid.
Wie es um Seth und Lizzie stand, das war etwas anderes. Er wusste nichts von dem Leben, das sie jetzt führten. Vielleicht waren sie verheiratet und hatten Kinder. Vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher