Der Kugelfaenger
und brennen nun ebenfalls.
Die Flammen fressen sich in den mit wenigen Wolken bedeckten Himmel.
Tom rappelt sich vorsichtig auf und hält sich den Hinterkopf. Er fühlt etwas klebriges, dickflüssiges. Als er die Hand wegnimmt, ist sie voller Blut. Vor seinen Augen verschwimmt alles. Seine Lungen schmerzen und er kann kaum atmen.
Er erblickt die brennenden Fahrzeuge. Plötzlich kommt es ihm so vor, als wäre er um sechs Monate zurückversetzt. Er rennt durch den Eingang einer Bank in Manhattan nach draußen und schubst dabei unsanft einige Leute zur Seite, die ihm im Weg stehen. Draußen bleibt er stehen, um sich zu orientieren. Es ist sehr viel los, obwohl es eiskalt ist. Es ist Januar und die Schneeflocken tanzen um ihn herum und nehmen ihm die Sicht. Es fängt fester an zu schneien und er kann durch den dicken Schneeschleier einen kleinen schmächtigen Mann um die vierzig erkennen. Er hat den Kragen seines teuren Mantels weit nach oben geschlagen und den Kopf eingezogen, um sich vor der beißenden Kälte zu schützen, die unter seinen Mantel kriecht und seine schneeweißen, ebenmäßigen Zähne zum Klappern bringt. Mit einer behandschuhten Hand umklammert er den Griff einer prall gefüllten Aktentasche.
Der Mann winkt ein langsam heranfahrendes Taxi zu sich und geht schnell darauf zu; er hat es eilig. Er muss kurz ins Krankenhaus fahren, denn dort liegt seine sechsjährige Tochter. Sie hat sich heute beim Schlittschuhlaufen am Rockefellercenter den Fuß gebrochen und sich auch noch eine Gehirnerschütterung zugezogen. Die Kleine heult die ganze Zeit, bringt damit ihre Mutter zur Verzweiflung und möchte unbedingt ihren Daddy sehen.
Der Mann muss sich wirklich beeilen, denn er muss nachher sofort in sein Büro zurück, um sich gründlich auf eine bevorstehende Aufsichtsratssitzung vorzubereiten. Sein Plan ist es, ein kleines, nerviges Grüppchen der anderen Aufsichtsräte mal so richtig zu grillen.
Der Mann hastet weiter auf das bereits stehende Taxi zu; er hört seinen Leibwächter hinter sich nicht, der ihm nachbrüllt, er solle gefälligst warten.
Der kleine Mann sieht nicht, dass der Taxifahrer ausgestiegen ist, als er seine Hände mit den Handschuhen nach dem Türgriff ausstreckt und die Hintertür des Taxis öffnet. Erst als ihm auffällt, dass der Fahrer nicht hinter dem Steuer sitzt, sondern eilig davon hastet und in der Menschenmasse der Gehwege verschwindet, stutzt er erstaunt. Doch die Erkenntnis, dass hier irgendetwas faul sein muss, kommt für ihn zu spät. Plötzlich ist alles für einen Moment durch einen ohrenbetäubenden Knall hell erleuchtet. Feuer schießt zu allen Seiten des Fahrzeugs hinaus und Tom, der sich nur wenige Meter davon entfernt befindet, wird von der Druckwelle erfasst und zurückgeschleudert. Er kracht auf den harten Gehweg und landet im Schneematsch. Der Aufprall presst ihm gewaltsam die Luft aus den Lungen. Glassplitter stecken in einem Bein.
Auf dem Parkplatz vor dem Flughafen laufen einige Leute herbei. Einer schreit nach der Feuerwehr.
Sein Unterbewusstsein befördert Tom wieder in die Realität zurück. Dann sieht er Evelyn.
Sie liegt am Boden, das Gesicht von ihm abgewandt.
„Evelyn!“, keucht er und krabbelt zu ihr hin. Ihm ist, als würde er durch den nassen Matsch auf das Taxi von vor sechs Monaten zukriechen.
Er erreicht Evelyn nur mit Mühe und kniet sich neben sie hin. Sie hat blutige Abschürfungen an der Stirn und am Kinn. Er streicht ihr mit zittrigen Fingern über eine Wange.
In Gedanken hockt er neben einem blutüberströmten und mit Glassplittern gespickten Körper. Tom hat den Schnee überall. Sogar in seiner Nase und im Mund. Seine Finger sind steif gefroren.
„Evelyn“, sagt er noch einmal. Sie reagiert nicht. Plötzlich bekommt er Panik.
Die eisige Kälte fährt ihm ins Hirn, umwindet seine Gehirnzellen, friert ihm die Gedanken ein, wandert blitzschnell bis zum Herzen, zieht es ihm zusammen und lässt es mit seinen grausam kalten Klauen nicht mehr los.
Er sieht den geschundenen Körper neben dem zerstörten Taxi. Der frische, blendend weiße Schnee vermischt sich mit dem Blut und färbt sich rot.
„Evelyn, wach auf!“, sagt er und schüttelt sie mit der Verzweiflung eines Hilflosen an der Schulter. Da schlägt sie endlich ihre braunen Augen auf und starrt an ihm vorbei ins Leere. Dann schiebt sich sein Kopf in ihr Blickfeld und sie blickt ihm leicht verunsichert ins Gesicht. Diese wunderschönen, lebendigen Augen.
Sie ist nicht tot,
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