Der Kult - Cordy, M: Kult - The Colour of Blood
brennenden Verlangen – dem Urbedürfnis –, sich zu befreien und seine eigenen Wege zu gehen. Allein die Männer so zu töten, wie er es getan hatte, besonders das erste Opfer, hatte seinen inneren Kampf zwischen dem eisernen Griff der Pflicht und dem unwiderstehlichen Sog des Verlangens für kurze Zeit beendet.
Doch die Zeit des Tötens war vorüber. Seine Pflichten duldeten keinen weiteren Aufschub. Er ging ins Schlafzimmer und warf sein Handy auf das ungemachte Bett. Der Fußboden war übersät mit Zeitungsausschnitten über die Frau, der die Menschenkinder den Namen Jane Doe gegeben hatten. Nachdem er alle Informationen über sie gesammelt hatte, die er kriegen konnte, hatte er herausgefunden, in welcher Klinik sie sich aufhielt und sogar in welchem Zimmer. Doch bislang hatte er noch nicht gehandelt. Er blickte zu dem Telefon auf seinem Bett, als erwartete er, dass es jeden Moment klingelte. Er konnte sich noch gut an die beiden wichtigsten Fragen des letzten Anrufs erinnern:
» Hast du sie gefunden?«
» Übst du auch Disziplin unter den Menschenkindern?«
Bei der Beantwortung beider Fragen hatte er gelogen, wobei der eiskalte Schauer der Angst von der Glut der Rebellion gedämpft wurde. Doch wenn das Telefon ein weiteres Mal klingelte, würde er es nicht länger aufschieben können. Er musste entscheiden, was zu tun war, und es schnell erledigen. Es war keine Zeit mehr.
Er zog die einzige Garnitur Kleidung zum Wechseln, die er eingepackt hatte, aus der schwarzen Tasche auf dem Bett und zog sich an. Dann präparierte er eine Spritze, nahm die Schlüssel für den unauffälligen japanischen Geländewagen, der vor dem Apartment stand, und ging in die Küche, um das Jagdmesser zu holen. Er reinigte die von seinem letzten Opfer noch immer mit einer blutigen Kruste überzogene Klinge unter fließendem Wasser. Ein neues Gefühl von Entschlossenheit durchströmte ihn und beruhigte den Tumult in seinem Kopf ein wenig. Er packte Messer und Spritze in seine Tasche und warf noch einmal einen Blick auf die Adresse von Jane Does Aufenthaltsort.
Schließlich, als alles vorbereitet war, setzte er sich aufs Bett und kehrte zurück zu den flackernden Bildern auf seinem Handy, während er darauf wartete, dass es dunkel wurde.
19
Als sie Samanthas Haus verließen, konnte Jane Doe sich nicht erinnern, jemals so voller Hoffnung gewesen zu sein. Nathan Fox hatte sie ermutigt, ihre furchteinflößenden Halluzinationen nicht als eine Krankheit, sondern als eine unerwartete Gabe zu betrachten, und seine Tante hatte ihn darin unterstützt. Der Psychiater war völlig vorurteilsfrei an sie herangetreten, hatte nicht voreilig über sie geurteilt und sie nicht bevormundet. Vielmehr hatte er zugehört, beobachtet und sich trotz seiner eigenen offensichtlichen Bedenken auf neue Ansätze eingelassen, um ihr Problem zu verstehen. Schon allein dafür stand sie tief in seiner Schuld. Und doch, trotz aller Diskussion über Synästhesie, Transkommunikation und Quantenphysik war sie der Antwort auf die Frage, die sie am meisten beschäftigte, keinen Schritt nähergekommen: Wer bin ich?
Fox war ein interessanter, vielschichtiger Mann, und obwohl sie nur seine Patientin war, hatte sie das Gefühl, dass er ein Mensch war, den man niemals wirklich kennen würde, selbst als sein Freund. Sie dachte an die Sätze auf dem Foto im Haus seiner Tante: » Lass sie niemals zu nah herankommen. Verlier niemals die Kontrolle.« Die Kinderfotos hatten ihre Achtung vor Fox – und ihre Zuneigung zu ihm – noch gesteigert und ihr das Gefühl gegeben, ihn ein wenig besser zu verstehen. Es musste furchtbar gewesen sein, seine Familie so früh zu verlieren, und das Foto von ihm als tapferem kleinen Jungen im Karateanzug, der ein wenig abseits der anderen steht, passte ganz gut zu ihrem eigenen Gefühl von Trennung und Verlust.
Doch auch in seiner Distanziertheit war er nicht arrogant oder kalt. Dafür war er zu mitfühlend. Sie ertappte sich dabei, wie sie zu dem Psychiater hinüberschielte, das tiefe Blau seiner Augen betrachtete, seine vollen Lippen, die Art, wie sein dunkles Haar sich über den Ohren lockte.
» Ich wette, Ihre anderen Patienten sind nicht so sonderbar wie ich.«
Seine blauen Augen funkelten. » Sie würden sich wundern. Aber ich gebe zu, Sie sind sehr viel interessanter als die meisten.« Er lächelte. » Ein Freund von mir hat gesagt, ich bräuchte mal eine Herausforderung.«
» Nun, die haben Sie jetzt.« Sie lachte, und der
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