Der Kult - Cordy, M: Kult - The Colour of Blood
gestorben, ohne Kampf und emotionales oder körperliches Leiden. Er ist einfach sanft hinübergeglitten, was dann ein weniger intensives, vielleicht kaum wahrnehmbares Echo hinterlassen hätte.« Er dachte an den unauslöschlichen, aber nicht sichtbaren Blutfleck in Linnets Jagdhütte und an das Luminol, mit dem man ihn sichtbar gemacht hatte. Hinterließen alle Morde und gewaltsamen Tode also auch einen solchen psychischen Fleck?
» Und es würde erklären, wieso ich auf der Palliativstation im Oregon State Hospital nur wenige Halluzinationen hatte«, sagte Jane Doe langsam. » Obwohl die Menschen um mich herum starben, war ich in einem neueren Flügel mit weniger Erinnerungen, und das Sterben um mich herum verlief kontrolliert, ruhig und kam nicht unerwartet.«
» Palliativstationen sind dafür da, um Menschen zu helfen, sanft zu sterben«, stimmte Samantha ihr zu.
» Transkommunikation erklärt aber nur die Geräusche«, sagte Jane und rieb sich die Schläfen. » Was ist mit den Dingen, die ich sehe, rieche, spüre und schmecke?«
» Im Moment sammeln wir nur Daten zum Schall, aber das Prinzip lässt sich auf alle Sinne anwenden«, sagte Samantha. » Nehmen wir zum Beispiel das Sehvermögen. Das menschliche Auge kann alle Farben des Regenbogens wahrnehmen, aber das ist nur ein Bruchteil des gesamten elektromagnetischen Spektrums. Als Menschen leben wir in der neunundvierzigsten Oktave des elektromagnetischen Lichtspektrums. Unterhalb dieses Bereichs liegen kaum wahrnehmbare Wärmestrahlung, dann unsichtbares Infrarot, Fernseh- und Radiowellen, Schallwellen und Hirnströme. Darüber kaum sichtbares Ultraviolett, unsichtbare Frequenzen von Chemikalien und Parfüms, Röntgenstrahlung, Gammastrahlung, radioaktive Strahlung und unbekannte kosmische Strahlung. Das heißt, dass ein riesiger Bereich an Stimuli – von Radiowellen am unteren Ende des Spektrums bis zu unbekannten kosmischen Strahlen am oberen Ende – für uns unsichtbar ist. Doch unter den richtigen Bedingungen können wir meh r v on dieser verdeckten Welt – unserer Welt – sichtbar machen.
Viele Menschen spüren beim Betreten bestimmter Gebäude eine besondere Atmosphäre – angenehm oder nicht –, die sie aber meist ignorieren. Manche Menschen dagegen nehmen spezielle visuelle Eindrücke wahr. Die angeblich so sensationellen Fähigkeiten von sogenannten Hellsehern haben die Glaubwürdigkeit dieser Wahrnehmungen infrage gestellt, aber es gibt Fallbeispiele, zum Beispiel die berühmten römischen Legionäre von York in England. Unter bestimmten atmosphärischen Bedingungen sind sie immer wieder von unterschiedlichen Zeugen gesehen worden. Alle berichten unabhängig voneinander von exakt der gleichen geisterhaften Erscheinung, und alle sagen, dass nur die Oberkörper der Männer über der Erde zu sehen waren. Tatsächlich lag die ursprüngliche römische Straße knapp einen Meter unter der heutigen – was erklären würde, wieso man die Beine nicht sehen konnte. Hellseher nennen dieses Phänomen einen ortsgebundenen Spuk. Die Soldaten interagieren nicht mit dem Zuschauer. Sie sind lediglich eine Erinnerung – ein zeitversetztes visuelles Echo –, eingebrannt in die Materie der Straße, ein Bild, das unter bestimmten atmosphärischen Voraussetzungen – wie zum Beispiel in der Stunde vor einem Gewitter – für diejenigen sichtbar wird, die aufmerksam oder sensibel genug sind, um es wahrzunehmen.« Sie sah Jane fest in die Augen. » Sie dagegen scheinen keine besonderen atmosphärischen Voraussetzungen zu brauchen, um die Echos von Sterbenden in all ihrer sinnlichen Pracht zu erleben.«
» Aber wieso? Wieso bin ich so anders?«
» Das ist eine Frage für Nathan.«
Fox zuckte mit den Schultern. » Ich kann mir nur vorstellen, dass Ihre besondere Form der totalen Synästhesie, die jedes Geräusch, jedes Bild oder jeden Geruch durch das Prisma all ihrer miteinander verbundenen Sinne interpretiert, dafür verantwortlich ist. Vielleicht entsteht durch diese Synergie ein ganz eigener zusätzlicher Sinn.«
Sie runzelte die Stirn. » Wie ein sechster Sinn?«
» Ich sehe es eher als eine spezifische Form von Synästhesie. Wie ich schon sagte, ist Synästhesie keine Krankheit. Tatsächlich betrachten viele es als eine Gabe.« Er überlegte kurz. » Wenn man der Konvention folgen möchte, könnte man es Todesecho-Synästhesie nennen oder so ähnlich.«
» Todesecho-Synästhesie?« Jane Doe dachte einen Moment lang darüber nach. » Wenn es einen
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