Der Kulturinfarkt
Kulturpolitik mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Ihre Erfolglosigkeit ist bis heute ihr Existenzgrund.
Die Demokratie erfindet sich laufend neu in einem Wettbewerb divergenter Mikrowertsysteme, die auch eine kulturelle oder ästhetische Ausprägung finden. Deshalb kann es keine klar umrissene nationale Identität und auch keine herrschende kulturelle Norm mehr geben, sondern nur den Widerstreit und Widerspruch von Kulturen. Migration, der große Treiber von Veränderungen zu Beginn des dritten Jahrtausends, führt auf diesen Punkt hin. Kulturelle Identität ist nur noch als Prozess zu haben. Man kann das postmoderne Demokratie nennen; es setzt voraus, dass die demokratischen Mechanismen stark genug sind, auch heftige Umbrüche zu ertragen. Und genau darum geht es in der Kulturpolitik. Mechanismen, in denen Differenz sich entfalten kann und die Umbrüche antizipieren und möglich machen. Die Verteidigung von ästhetischen Qualitäten und Normen wirkt nur hilflos.
Eine künftige Kulturpolitik wird ihre Legitimation deshalb nicht mehr aus ihrer konstitutiven Erfolglosigkeit beziehen können. Die Legitimation wird darin bestehen, parallele Kulturen zur Blüte zu führen, eine Fülle kultureller Identifikationsangebote sich entfalten zu lassen, grundlegender vielleicht: die Systemkräfte anzutreiben und Hülle und Fülle jenseits sozialer Klassenbildung hervorzubringen. Das können, ja müssen sich widersprechende Systeme sein, solche höchsten Anspruchs nach heutigen Begriffen und solche tiefsten, aber auch visionäre und statische, rückwärtsgewandte wie forschende, vertraute und fremde. Aus großer Kunst resultieren Respekt und Anerkennung für andere Lebensmodelle, andere Menschen, andere Kulturen. Große Kunst aber ist für den, der nicht Pfründe verteidigen muss, immer erkennbar. Der gemeinsame Nenner in einem solchen System wäre der Blütegrad der phantastischen Ideen, sein Mechanismus der Wettbewerb. So geht der kulturpolitische Imperativ der Vielfalt: Zugehörigkeit benötigt Widerspruch.
Die vier Paradigmen Mündigkeit, Rationalität, Gleichberechtigung und Widerspruch hängen zusammen. Sie zeichnen den Umriss einer künftigen Kulturpolitik. Einer Politik, die nicht mehr autoritär ist, nicht mehr Emanzipation (von der Vergangenheit, vom Kitsch, vom Kommerz) zur Hochkultur propagiert, sondern Raum für die bedingungslose kulturelle Entfaltung vielfältigster Gruppen und Schichten schafft. Sie enthält sich der Qualitätsurteile und privilegiert Situationen, welche Phantasie beflügeln, einzeln wie in Gruppen. Dazu setzt sie Schwellen der Eigenwirtschaftlichkeit, die eine Nachfrageorientierung erzwingen, und belohnt Eigeninitiative und kulturelles Unternehmertum. Sie definiert kulturelle Bildungsziele und sichert Schnittstellen zum Bildungssektor, ohne sich als Bildungspolitik zu gebärden. Sie betreibt keine eigenen Einrichtungen. Um der wechselseitigen Kannibalisierung vorzubeugen, reduziert sie die Zahl der geförderten Einrichtungen. Projektunterstützung für unabhängige Künstler vergibt sie entwicklungsbezogen und in Formen der Lotterie. Durch Verknappung der Produktion gewinnt sie Ressourcen zurück, die sie in die digitale Distribution investieren kann, die bis in die entferntesten Haushalte reicht.
Ordnungspolitische Sensibilität versus Förderwirrwarr
Förderung der Phantasie klingt phantastisch. Doch was immer die öffentliche Hand tut, es geschieht nicht isoliert. Die Auswirkungen lassen sich nicht eingrenzen, sondern treten oft unvermutet anderswo auf. Deshalb gilt es, bevor wir auf einzelne Programme eingehen, grundsätzlich über den Umgang mit öffentlichen Mitteln in Zeiten der Knappheit zu reden.
Wie wirkt öffentliche Förderung, wie kann ihre Wirkung verbessert werden? Wann überhaupt muss öffentliche Förderung eingreifen, und welche unter all den wünschenswerten Anliegen regelt die Gesellschaft selbst? Welche Gesichtspunkte sollen das öffentliche Handeln leiten? Dies ist die Frage nach der ordnungspolitischen Betrachtung von Kulturförderung.
Fast alle öffentlich geförderten kulturellen Angebote stehen in Konkurrenz mit anderen, auch mit nicht geförderten Angeboten. Wo kein Theaterzwang herrscht, haben Menschen die Freiheit, ein Buch zu lesen, eine Theaterkarte zu kaufen oder sich Pommes rot-weiß zu gönnen. Die letzte Entscheidung, wo sie ihr Geld ausgeben wollen, treffen Konsumenten auf dem Markt. Kulturförderung ist – auch wenn viele das nicht hören wollen
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