Der Kulturinfarkt
dann dürfte er bei den meisten Menschen jene melancholische und finstere Stimmung leicht zerstreuen, die fast immer Nährboden von Aberglauben und Schwärmerei beim einfachen Volk ist.« 76 Smith erkennt den Mechanismus, doch deutet er ihn noch umgekehrt. Im 18. Jahrhundert stieg das Bürgertum erst auf, und Vergnügen, stilvoll dargeboten, galt nach der höfischen Langeweile erstmals als ehrenwert.
76 Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 676.
Die Kunst wird also darin bestehen, Vergnügen und außergewöhnliche Empfindungen zu vereinen: Erschütterung, Betroffenheit, Erleichterung, Erlösung, Euphorie, Beklemmung. Die Suche nach solchen Zuständen treibt viele ins Kino, zur Literatur, ins Konzert, ins Theater. Eine Kunst, die regelmäßig Anschluss an diese emotionalen Bedürfnisse findet, würde Wirklichkeitsbezug haben. Sie würde mehr am Menschen Maß nehmen und weniger am Konzept. Das hieße, sich mehr an der Nachfrage zu orientieren. Und damit die Produzenten mehr am Menschen Maß nehmen, muss der Staat die Unterstützung knapper berechnen. Er muss von Kultureinrichtungen wie von freien Produktionen Selbstfinanzierungsgrade von mindestens 33 Prozent fordern. Sie können auch höher liegen, bei 50 oder 66 oder 80 Prozent. Sagen wir: Der heutige Prozentsatz plus 20 Prozent. Der Staat könnte überdies fordern, dass deutlich mehr zeitgenössische Werke ins Programm aufgenommen werden. Welche das dann sind, hat ihn nicht mehr zu interessieren. Das wäre eine doppelte Annäherung an ein buntes Publikum, von den Inhalten wie von der Präsentation her. Dass es geht, dafür gibt es genug Beispiele. Nötig ist, dass der Staat die Institutionen in die Freiheit entlässt, »desintegriert« sozusagen. Ein Theater oder ein Museum als Bestandteil kommunaler oder der Landesverwaltung – ein Widersinn. Kultureinrichtungen brauchen unternehmerische Freiheit, nur so können sie innovativ sein. Die Leitplanken setzt ihnen ein Subventionsvertrag. Er definiert den kulturpolitischen Auftrag und finanzielle Hilfe. Und er baut Druck auf, damit die Stimme des Publikums gehört werde, jene der Mitarbeiter, der Türsteher und des Aufsichtspersonals. Und der Künstler am Hause.
Gleichberechtigung: Bürger der Phantasie
Das dritte Paradigma heißt: errmöglichen statt entscheiden. Die Urteilsmacht über die der Gesellschaft angemessene Kultur gehörte historisch unterschiedlichen Instanzen. Im Mittelalter war es der Papst (sprich die Kirche), welcher die Zulässigkeit kultureller Inhalte bestimmte und Aufträge erteilte. Darauf folgte der König, die weltliche Macht – vertreten durch die Aristokratie –, als Auftraggeber. Er wurde abgelöst durch das Bürgertum, seit dem 18. Jahrhundert im Besitz der wirtschaftlichen Macht. Es war zum ersten Mal auch Käufer von Kunst. Die Exponenten der bürgerlichen Kulturkonzeption waren die Intendanten und Direktoren (und die Lehrer der neuen Volksschulen), die – in ein stabiles Wertesystem eingebettet – urteilten und gestalteten. Die Demokratisierung der Kultur, 1976 angestoßen durch »Kultur für alle«, forderte transparente und partizipative Prozesse. Sie führte zum Einzug des Managements in die Kulturverwaltung und -förderung. Doch sie blieb darin unvollendet. Der Abschied von Autorität und Kanon erfolgte nur halbherzig. Wir haben die Gießkanne und die Beliebigkeit der Postmoderne, aber trotzdem ein Schisma. Vor allem haben wir keine Persönlichkeiten mehr in der Kulturpolitik, sondern überall Kommissionen und Jurys sowie komplexe Regelwerke. Das Verschwinden des mutigen individuellen Gestus hat, vor allem in Deutschland, den Einfluss einzelner Politiker auf die Gremien sogar erhöht, besonders wo sie über exekutive Gewalt verfügen. Entscheidungen werden durch ein immer kostspieligeres Konsultationswesen immer aufwändiger legitimiert. Der einzelne Politiker und seine Kulturverwalter fürchten sich davor, Entscheidungen zu treffen und dafür haftbar zu sein. Das führt zu einer grotesken Vielfalt an Gremien. Niemand außer ein paar Privaten unterstützt mehr mit großer Geste, sondern jeder nur ein bisschen. Kleine Beiträge bannen die Gefahr, große Fehler zu machen. Deshalb wächst mit der Zahl von Tröpfchen aus der Fördergießkanne aufseiten der Kulturproduzenten der Bedarf an Projektmanagement und Fundraising. Beides treibt die Produktionskosten in die Höhe. Das gilt für die institutionelle wie die unabhängige Kulturproduktion. Die bizarre
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