Der Kulturinfarkt
Verzerrung wird deutlich im Vergleich mit anderen Politikfeldern. Während hier eine Jury sorgsam über ein kulturelles Preisgeld von 5000 Euro oder eine Projektunterstützung von 20 000 Franken berät, überweist der Staat dort Millionen und Milliarden an öffentliche Unternehmen wie Bahn, Krankenhäuser, Hochschulen und lässt sie dann wirken. Gern schließt er die Augen vor unangenehmen Einzelheiten. Abgerechnet wird einmal im Jahr.
Bei der Demokratisierung des Entscheidens könnte die Kultur Vorreiterin sein. Nach den Expertenkommissionen und Jurys bleiben als neue urteilende Instanz nur der Bürger und die Bürgerin selbst. Deren Erhebung zu Experten entspräche dem Geist der Demokratisierung, der viele Teile der Gesellschaft seit 1968 erreicht hat. In der entwickelten Demokratie sind die Bürger aufgerufen, über Schulhausneubauten, Verfassungsänderungen, Bahnhöfe abzustimmen und ihre Vertreter zu wählen. Die Demokratie unterstellt ihnen Urteilsfähigkeit, unbesehen ihres Standes und ihrer Bildung. Das ist ihr Funktionsparadigma. Warum das in der Kultur nicht auch sein darf, bleibt eine Frage, auf die es keine Antwort gibt – außer dass Eliten ihre (kleine) Macht gern verteidigen. Sie sind Eliten qua Entscheidungsgewalt und der damit verbundenen Zuweisung von Ressourcen, die von allen gemeinsam aufgebracht werden. Kulturpolitik am Anfang des 21. Jahrhunderts müsste in der Logik der Demokratieentwicklung ganz unvoreingenommen Möglichkeiten der aktiven, produktiven Teilhabe schaffen, ohne eine Ästhetik, einen Diskurs, eine Position, eine sogenannte Qualität zu bevorzugen. Sie müsste sie durchweg als gleich wertvoll betrachten. Das wäre eine Kulturpolitik, die, statt Auserwählte zu fördern, Möglichkeiten schafft, in denen sich alle realisieren können, die Amateure, die Laien, die Profis, die Konventionalisten, die Experimentalisten. Das Werturteil bliebe den Konsumenten überlassen. Ziel wäre eine möglichst breite Partizipation. Deswegen muss niemand die Herrschaft des Amateurismus befürchten, Exzellenz resultiert aus jedem Wettbewerb. Das Bonmot aus dem Kunstbetrieb trifft es: Der Käufer ist der schärfste Kritiker. Kulturelle Institutionen müssten divergent aufgestellt sein, um gegenläufige Konzepte zu präsentieren. Die Förderung von Einzelnen oder Einzelprojekten orientierte sich nicht mehr am selbstreferentiellen Qualitätsbegriff der Experten. Sie erfolgte vielmehr technisch, durch Verlosung oder Zuschreibung als Funktion außerkünstlerischer Faktoren (Partizipationspotenzial, Dezentralisierung, Basisinitiativencharakter). Wirklich demokratisch wäre eine Verlosung mit Zulassung aufgrund sehr einfacher, sachlicher Kriterien. Das Ergebnis wäre eine Rotation des Förderprivilegs, verbunden mit Realisierungschancen für neue Ideen, deren Potenzial im heutigen Förderdiskurs nicht zu beschreiben ist. Wie der Bürger unter dem Titel der Mündigkeit für sein Glück selbst verantwortlich ist (vergleichbare, aber nicht gleiche Chancen vorausgesetzt), so muss er auch als Produzent kultureller Inhalte als mündig betrachtet werden. Und wenn der Staat die Produktivität steigern, also fördern will, dann muss er alle ernst nehmen, Profis wie Laien, Insider wie Outsider. In der Praxis würde das bedeuten, viel mehr kostengünstige multifunktionale Infrastruktur bereitzustellen und erst in zweiter Linie die finanziellen und logistischen Ressourcen.
Ein solches Vorgehen könnte man eine Politik der Phantasieförderung nennen. Der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler bezeichnete die Phantasie jüngst als »lebenswichtiges Organ«. Er münzte sein Plädoyer für ihre Anerkennung auf die Diktatoren, die sich vor ihr fürchten. Doch die Phantasie stirbt auch bei uns, sie wird zur Strecke gebracht von Kriterien, Ansprüchen und Antragsformularen, von Leistungsvereinbarungen. Und endgültig erledigt von Jurys und Kommissionen. Alle kennen wir den Spruch »Ach, das könnte ich auch!« und lächeln darüber. In der Aussage steckt viel weniger laienhafte Dummheit, als wir glauben. Sie teilt uns ja nur mit, dass »das« da unsere Phantasie nicht anregt. Doch hören wir Musik nicht gerade deshalb, weil sie unsere Phantasie anregt? Gehen wir nicht genau darum ins Kino, weil es uns packt und phantasieren lässt, wie wir die Herausforderung in den Rollen bewältigen würden, wie banal oder anspruchsvoll sie immer sind? Gilt nicht dasselbe für die Literatur? Ist Phantasie nicht das Reich der Selbsterprobung?
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