Der Kulturinfarkt
Doch was ich selbst kann, treibt meine Phantasie nicht an, gibt mir keinen Begriff eines erweiterten Lebens. Solche lebenserweiternde Herausforderung aber manifestiert sich sinnlich, nicht abstrakt. Und meist nicht in erwarteter Form.
Phantasie ist die elementare Form von Freiheit. Könnte eine künftige Kulturpolitik die Summe von Strategien zur Stimulierung der individuellen Phantasie sein? Warum nicht! Der Begriff taucht in der kulturpolitischen Debatte erstaunlicherweise gar nicht auf, obwohl er mit Kunst aufs Engste verbunden ist. Dabei hätte das große Vorteile. Kreativität ist als Begriff auf das Schaffen ausgerichtet, Phantasie dagegen auf das Erleben wie auf das Schaffen.
Die Beliebtheit des Kreativitätsbegriffs erweist erneut, wie sehr Kulturförderung einer Produktionslogik folgt, nicht einer sozialen Logik. Phantasie als Vorstellungskraft hingegen ist nicht nur die jedem Individuum verfügbare Ressource, sie ist auch jene Fähigkeit, dem Geist oder der Seele Auslauf zu verschaffen jenseits der Alltagswirklichkeit. Diese Lust existiert bei Gebildeten wie bei Ungebildeten, bei Künstlern wie bei Konsumenten. Sie ist ein Baustein von Glück. Kunst ist alles, was ein Produkt der Phantasie ist und was diese anregt. Phantasie selbst ist ein Beweis und eine Quelle dessen, was Menschen möglich ist. Und schon wären zahlreiche gängige Unterscheidungen der Kulturpolitik Makulatur.
Wenn aus einer Phantasiepolitik kulturpolitische Imperative abzuleiten sind, dann sind es deren zwei: Erstens geht es darum, ohne qualitative Filter den privaten Kulturkonsum zu erleichtern durch die ordnungspolitisch orientierte Förderung digitaler Distribution von Kunst und Kultur und klare Kulturaufträge für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Zweitens ist angezeigt, Laien zu fördern, Gefäße bereitzustellen, in denen die Initiative der Basis sich ohne Bevormundung entfalten kann. Dieser Raum aber muss, hier wird es schmerzhaft, den Kultureinrichtungen abgerungen werden. Künstler sind bekanntlich Spezialisten der Phantasie. Allein, die Metamorphose des Bürgers zum Künstler muss auch im Alltag möglich sein.
Widerspruch und kulturelle Identität
Das vierte Paradigma heißt: Vielfalt rührt aus Widerspruch. Wer Qualität will, muss viele Qualitäten wollen. Und damit leben können, dass sich vielleicht jene durchsetzt, die er nicht favorisiert.
Ein Schlüsselmotivator für kulturelle Aktivität heißt soziale Identifikation. Über Kultur definieren wir weiterhin unseren sozialen Stand. Die Besucher eines alternativen Kulturzentrums positionieren sich anders als Operngänger, die Bürgerlichkeit zur Schau stellen. Der Besucher eines Jodelkonzerts macht eine soziale Aussage genauso wie die Leserin anspruchsvoller Romane. Jede Wahl dokumentiert Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Schicht, Klasse, wie immer die soziologischen Orientierungssysteme heißen.
Die Achtziger versuchten, die Angleichung zu erzwingen und die soziale Strukturierung der Kulturlandschaft zu überwinden. Man fand die Alternativen in der Oper, reiche Bürger gingen ins Rockkonzert. Das waren kurzlebige Versuche, sich durch einen Rollentausch außergewöhnliche Erlebnisse zu verschaffen. In der Postmoderne sind viele in der Lage, mit diesen zu Rollen spielen, heute alternativ zu sein und morgen auf Großbürgertum zu machen. Doch diese Fähigkeit zum Rollenspiel ist nur ein weiteres Distinktionsmerkmal der intellektuellen Klasse. Sie ändert nichts daran, dass jede soziale Gruppe einen Stallgeruch hat, der die anderen fernhält. Die Konsumstatistiken aller Länder bestätigen diesen banalen Befund; Bildung und Einkommen sind nach wie vor die sozialen Dominanten, wenn es darum geht, welche Art von Kunst in Anspruch genommen wird und wie oft.
Daraus resultiert, wir haben es zu zeigen versucht, ein gravierendes Legitimationsproblem aktueller Kulturpolitik. Im vermeintlichen Auftrag aller schuf sie kulturinstitutionelle Modelle, die wenige ein- und viele ausschließen. Das war so lange kein Problem, wie es eine anerkannte Autorität (ein kulturpolitisches Projekt) gab, welche ihre Normen durchsetzte. Das war so lange kein Problem, wie es ein verbindliches Modell des Bürgers gab, auf das hin sich zu entwickeln einem jeden beschieden war. Doch nicht alle gingen mit. Die Überwindung dieses Ausschlusses war das parteiübergreifend akzeptierte Ziel einer kulturellen Sozialisierung. Dass nur eine Minderheit es schaffte, legitimiert die Fortsetzung der
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