Der kuriose Fall des Spring Heeled Jack: Roman (German Edition)
Heide«, machte sich Bendyshe über ihn lustig. »Burton schließt sich Darwin an und sagt, es gibt keinen Gott.«
»Genau genommen hat Darwin so etwas nie behauptet. Es waren andere, die seiner Entstehung der Arten diese Interpretation auferlegt haben.«
»›Es gibt keinen Gott, die Natur ist sich selbst genug; in keinster Weise hat sie Bedarf an einem Autor‹«, zitierte Swinburne. »Wieder de Sade.«
»In vielen Belangen finde ich ihn amüsant«, kommentierte Burton. »Doch in diesem Falle stimme ich de Sade von ganzem Herzen zu. Je mehr ich die Religionen studiere, desto stärker bin ich überzeugt, dass der Mensch niemals etwas anderes verehrt hat, als sich selbst.«
Er zitierte sein eigenes Gedicht:
»Der Mensch verehrt sich selbst: Sein Gott ist er;
im Seelenkampf, die Sterblichkeit zu überwinden,
formt er das Abbild der eignen Vollendung
und sucht, sich dort zu finden.«
Milnes zog an seiner Zigarre und blies einen Rauchring, der sich träge in die Luft erhob. Er sah zu, wie sich die Form langsam auflöste und sagte: »Aber diese Karma-Kiste, Richard … Was du hier vorschlägst, ist doch, dass auf die eine oder andere Art und durch irgendeinen vollkommen natürlichen Vorgang jeder Mörder Vergeltung erfährt. Also hältst du auch des Menschen Urteil – die Todesstrafe – für natürlich?«
»Wir sind Wesen der Natur, oder nicht?«
»Nun ja«, unterbrach ihn Bendyshe, »bei Swinburne bin ich mir da manchmal nicht so sicher.«
Nicht ganz zu unrecht, dachte Burton, denn Swinburne besaß ein äußerst unnatürliches Aussehen. Mit einer Größe von knapp einssechzig war er äußerst klein gewachsen. Seine Glieder waren zart und zierlich, mit hängenden Schultern und einem ausgesprochen langen Hals, auf dem ein riesiger Kopf saß, den ein zerzauster Schopf karottenroten Haares, das in alle Richtungen stand,noch größer wirken ließ. Sein Mund war weich und mädchenhaft, die Augen groß, von blassem Grün und verträumt. Nur wenige Dichter sahen so sehr nach einem Dichter aus wie Algernon Charles Swinburne.
»Aber davon einmal abgesehen«, sagte Bendyshe, »was, wenn der Mörder dem Henker entkommt?«
»Schuldgefühle«, erklärte Burton. »Allmählicher, aber unausweichlicher Zerfall des Charakters. Eine degenerative Krankheit des Geistes. Vielleicht sogar Verfall in Wahnsinn und Selbstzerstörung.«
»Oder vielleicht«, schlug Swinburne vor, »ein Hang zu kriminellem Umgang, bis schließlich der Mörder selbst unausweichlich zum Mordopfer wird.«
»Wahre Worte«, stimmte der berühmte Entdecker zu.
»Interessant«, gab Milnes nachdenklich zurück. »Aber wir wissen doch alle, dass Morde entweder im Affekt oder mit klarem Vorsatz begangen werden. Letzteres im Falle eines Individuums, das sich sozusagen bereits in einem fortgeschrittenen Zustand geistigen Verfalls befindet. Was aber, wenn ein intelligenter Mensch, der die Tat einzig aus wissenschaftlicher Neugier begeht, einen Mord plant und verübt? Was, wenn es nur geschähe, um die Grenzen zu überschreiten, die uns befehlen, es nicht zu tun?«
»Ein leeres Motiv«, warf Burton ein.
»Ganz und gar nicht, mein Junge!«, rief Milnes aus. »Es ist ein ganz hervorragendes Motiv! Schließlich würde der Mann, der eine solche Tat begeht, seine unsterbliche Seele für die Wissenschaft riskieren!«
»Zweifellos würde er sich besinnen und von dem Experiment ablassen«, sagte Burton, langsam etwas undeutlich, »denn ist diese Grenze einmal überschritten, gibt es kein Zurück. Die Gründe seiner Entscheidung lägen jedoch eher in selbstbestimmten und weniger in von der Gesellschaft diktierten Verhaltensgrundsätzen oder gar der Vorstellung einer unsterblichen Seele, denn schließlich handelt es sich, ihr sagtet es, um einen intelligenten Menschen.«
»Seltsam«, sagte Henry Murray, der bis zu diesem Moment schweigend zugehört hatte. »Ich dachte, dass du diesem Experiment von uns allen mit größter Wahrscheinlichkeit zustimmen würdest.«
»Man sollte meinen Ruf eben nicht allzu wörtlich nehmen.«
»Wirklich? Eigentlich gefällt es mir ganz gut, den Teufel in unserer Runde zu haben«, grinste Swinburne.
Sir Richard Francis Burton betrachtete den beeinflussbaren jungen Dichter nachdenklich und fragte sich, wie er ihn wohl aus Schwierigkeiten heraushalten konnte.
Burton selbst war kein Libertin, doch man betrachtete ihn als Ehrenmitglied der Bewegung und ergötzte sich an seinem Wissen über exotische Kulturen, in denen sich die
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