Der kurze Sommer der Anarchie
Katastrophe.
Martinez Fraile
Siebente Glosse. Über den Helden
Wer die Gewißheit liebt, den kann die Geschichte des spanischen Anarchismus leicht zur Verzweiflung bringen. Wo er Tatsachen sucht, werden ihm Versionen entgegentreten. Wie viele Mitglieder hatte die CNT im Jahre 1919? 700 000, 1 000 000, 550 000. Drei Quellen, keine schlechter als die andere, geben drei verschiedene Auskünfte. 1936, beim Ausbruch des Bürgerkriegs, schwanken die Zahlen zwischen einer Million und 1 600 000. Ein Jahr später verdirbt die Redaktion der Solidaridad Obrera aller akademischen Wißbegierde mit einem brüsken Satz die Lust an weiteren Nachforschungen: »Schluß mit diesen elenden Statistiken! Sie erkälten uns das Gehirn und lassen unser Blut stocken.«
Noch mehr ins Tanzen gerät die Faktizität, wenn man sich der Figur des Helden nähert. Mit Durrutis Biographie hat es eine eigene Bewandtnis. Die Widersprüche der Überlieferung liefern ein unauflösliches Knäuel von Gerüchten. Hatte Durruti bei dem Attentat auf den Ministerpräsidenten Dato die Hand im Spiel? Welche Länder Lateinamerikas hat er besucht, und was ist dabei vorgefallen? Wer hat die Kathedrale von Lerida angezündet? Gab es eine Annäherung zwischen Durruti und den Kommunisten im Herbst 1936?
Auf diese Fragen gibt es entweder gar keine Antwort oder zu viele. Die beiden Darstellungen des Bürgerkriegs, die als Standardwerke gelten, erwähnen Durruti nur auf ein paar Seiten; aber selbst die spärlichen Daten, die sie geben, stimmen keineswegs miteinander überein. Der Engländer Hugh Thomas berichtet, Durruti sei in vier Ländern zum Tod verurteilt worden; seine Kolonne habe Ende Juli 1936 aus tausend Mann bestanden; sein Tod sei wahrscheinlich durch eine verirrte Kugel von der feindlichen Seite verursacht worden. Der Franzose Pierre Broue dagegen weiß nur von einem einzigen Todesurteil, das in Argentinien gefällt worden sei; er schätzt die Mannschaftsstärke der Kolonne auf dreitausend; und er hält es für möglich, daß Durruti von einem seiner eigenen Leute erschossen worden ist.
Diese Diskrepanzen sind kein Wunder, und schon ganz und gar nicht können sie den Historikern zum Vorwurf gemacht werden. Auch die eifrigste Quellenkritik wird die Knoten dieser Überlieferung nicht durchhauen können; mit ihrer Hilfe läßt sich allenfalls ein Stammbaum der verschiedenen Versionen zeichnen. An solchen Stemmata kann man ablesen, wie eine obskure Propagandabroschüre in einer halbwissenschaftlichen Arbeit zitiert wird und somit eine gewisse Respektabilität gewinnt. Von dort aus wandert sie weiter in seriöse Darstellungen, in Standardwerke und Lexika. Der Köhlerglaube ans gedruckte Wort ist weit verbreitet; als Tatsache gilt, was oft genug zitiert worden ist.
Daß sich die Geschichte einer Organisation wie der CNT und noch mehr der FAl auf schwankendem Grund bewegt, ist nicht schwer zu erklären. Wo die Massen ihre Sache selber in die Hand nehmen, statt sie »führenden« Politikern zu überlassen, werden gewöhnlich keine Sitzungsberichte publiziert. Was auf der Straße geschieht, das gibt man selten schriftlich. Dazu kommt die lange Übung der Illegalität, die den spanischen Anarchisten zur zweiten Natur geworden ist. Die Klassenkämpfe in Spanien waren kein Futter für Nachrichtenmagazine. Der Untergrund, in dem Männer wie Durruti operierten, ließ keine Fernsehkameras zu. Da die Archive der spanischen Polizei aus guten Gründen verschlossen bleiben, ist man auf zwei Hauptquellen angewiesen: die zeitgenössische Propaganda der CNT und die Erinnerungen der Überlebenden. Viele derer, die dabeigewesen sind, ziehen es auch heute noch vor zu schweigen. Wer spricht, wird manche Rücksicht nehmen; auch läßt der zeitliche Abstand von drei bis sechs Jahrzehnten das Gedächtnis nicht ungetrübt. Die alten Broschüren, die halbverschollenen Zeitschriften der zwanziger und dreißiger Jahre aber haben ihren Zweck längst überlebt; sie dienten der unmittelbaren Agitation, der Selbstrechtfertigung, der Anklage. Empört werden die Beschuldigungen der Polizei zurückgewiesen, mit dem Brustton der Überzeugung wird die Unschuld der Genossen festgestellt; doch oft schon eine Seite weiter ist von ihren ruhmreichen Waffengängen die Rede, von gelungenen Attentaten und Überfällen.
Die Widersprüche dieser Überlieferung sind von ihrem Inhalt nicht zu trennen. Eine passive Lektüre läßt dieses Material nicht ZU. Lesen heißt hier unterscheiden, urteilen, Partei
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