Der kurze Sommer der Anarchie
ergreifen. Das eigentümliche Zwielicht, das über der Geschichte des spanischen Anarchismus liegt, verdichtet sich, je näher wir dem Gegenstand dieses Buches kommen. Auch nachdem man alles gelesen hat, was über ihn in Erfahrung gebracht werden kann, bleibt Durruti, was er immer gewesen ist: ein Unbekannter, ein Mann aus der Menge.
Es ist auffällig, wie sich in den Berichten über ihn negative Bestimmungen wiederholen. »Er war kein Redner.« — »Er dachte nicht an sich selber.« — »Ein Theoretiker war er nicht.« — »Als General konnte man sich ihn nicht vorstel len.« — »Er war nicht eitel.« — »Er trat nicht wie ein Parteiführer auf« — »Von einem Feldherrn hatte er nichts.«
— »Die organisatorische Arbeit war nicht seine Stärke.«
— »In unserer Bewegung gab es viele Durrutis.« — »Er war kein Funktionär, kein Intellektueller, kein Stratege.« Wie und was er eigentlich war, das erfahren wir nicht. Das, worauf es ankäme, läßt sich offenbar nicht aussprechen. Das Spezifische an Durruti ist als individuelle Besonderheit nicht zu fassen. Was am anekdotischen Detail hervortritt, ist bis in die privatesten Handlungen hinein ein gesellschaftlicher Gestus. Die Beschreibungen halten ein proletarisches Profil fest, das unverkennbar ist; sie geben den Umriß einer Person an, ohne ihn psychologisch aufzufüllen. An Durruti versagt jede Einfühlung. Gerade deshalb haben die Massen sich in ihm wiedererkannt. Seine individuelle Existenz ist ganz und gar in einem gesellschaftlichen Charakter, dem des Helden, aufgegangen. Die Geschichte eines Helden aber gehorcht Gesetzen, die der bürgerliche Entwicklungsroman nicht kennt. Ihr Stoffwechsel wird von Bedürfnissen gesteuert, die mächtiger sind als bloße Tatsachen. Die Legende sammelt Anekdoten, Abenteuer, Geheimnisse; sie holt sich, was sie braucht, und scheidet aus, womit sie nichts anfangen kann; und auf diese Weise erreicht sie eine Art von Stimmigkeit, die zäh verteidigt wird. Der Feind, der es darauf angelegt hat, sie zu destruieren, den Helden zu »entlarven«, scheitert an der Konsistenz solcher kollektiver Erzählungen, ihrer Folgerichtigkeit und Dichte. Noch viel weniger Abbruch kann der Geschichte eines Helden die wissenschaftliche Widerlegung der einen oder andern Einzelheit tun. Diese Immunität verleiht dem Helden ein eigentümliches politisches Gewicht, mit dem auch die abgebrüh testen Schachspieler der Realpolitik zu rechnen haben; sie werden sich ihm nicht widersetzen, sondern eher versuchen, aus seiner Autorität Kapital zu schlagen, besonders wenn er tot ist und sich nicht mehr wehren kann.
Die Dramaturgie der Heldenlegende ist in wesentlichen Zügen vorgegeben. Die Ursprünge des Helden sind unscheinbar. Aus seiner Anonymität tritt er hervor als exemplarischer Einzelkämpfer. Der Ruhm heftet sich an seinen Mut, seine Redlichkeit, seine Solidarität. Er bewährt sich in aussichtslosen Situationen, in der Verfolgung und im Exil. Immer wieder entkommt er, wo andere fallen, als sei er kugelfest. Dennoch wird er erst durch seinen Tod ganz und gar zu dem, was er ist. Einem solchen Tod haftet stets etwas Rätselhaftes an. Er ist im Grunde nur durch Verrat zu erklären. Das Ende des Helden wirkt als Vorzeichen, aber auch als Verpflichtung. Erst in diesem Augenblick kristallisiert sich die Legende. Sein Begräbnis wird zur Demonstration. Straßen werden nach ihm benannt, sein Bild erscheint auf den Mauern, auf Transparenten; es wird zum Talisman. Der Sieg seiner Sache führt zur Kanonisierung, das heißt so gut wie immer zum Mißbrauch und zum Verrat. So hätte auch Durruti zum offiziellen, zum Nationalhelden werden können. Die Niederlage der spanischen Revolution hat ihn vor diesem Los bewahrt. Er ist geblieben, was er immer war: ein proletarischer Held, ein Mann der Ausgebeuteten, der Unterdrückten und Verfolgten. Er gehört der Gegen-Geschichte an, die nicht im Lesebuch steht. Sein Grab liegt am Stadtrand von Barcelona, im Schatten einer Fabrik. Auf der leeren Steinplatte findet man immer ein paar Blumen. Kein Steinmetz hat seinen Namen eingemeißelt. Nur wer genau hinsieht, kann lesen, was ein Unbekannter mit einem Taschenmesser in unbeholfener Schrift in den Stein gekratzt hat: das Wort Durruti.
Der Tod
Die Nachricht
Ich kam mit meinen Leuten von der Front, und am Moncloa-Platz ruft jemand zu mir herüber: »Rionda, komm her.« - »Was, ich?« - »Ja, du!« Ich geh hin, und er sagt: »Rionda, komm schnell, Durruti liegt im
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