Der Kuss der Göttin (German Edition)
seltsame Nostalgie überkommt mich. Das wird nie wieder mein Leben sein.
»Niemand ist hier, um dich zu töten, Tave«, sagt Jay, als lese er meine Gedanken. »Das alles …« Seine Handbewegung schließt die unsichtbaren Waffen um uns herum, verborgen von den großblättrigen Bäumen, ein. »Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Nach dem, was du mit Elizabeth und mir gemacht hast, denke ich, ist das verständlich.«
Er schiebt sich vor, als nähere er sich einem schreckhaften Fohlen. Trotz seiner Aussage scheint er keine Angst vor mir zu haben; er sieht aus, als mache er sich Sorgen, ich könnte Angst vor ihm haben.
Womit er recht hat. Ich bin starr vor Angst. Aber ich will es ihn nicht merken lassen.
Die Sonne scheint mit einer Macht auf die Mitte der Lichtung herab, die der bitteren Kälte der letzten Tage trotzt, doch abgesehen davon fließt in meinen Adern Eiswasser.
»Ich weiß, du musst etwas essen«, sagt Jay, der mir immer noch die Riegel hinhält. »Ich weiß nicht genau, was du gemacht hast, aber ich habe genug Erdgebundene auf der Flucht gesehen, um diesen Blick wiederzuerkennen; du hast noch ungefähr fünf Minuten, bis du ohnmächtig wirst.«
Obwohl jede Faser meines Körpers auf Flucht ausgerichtet ist, zwinge ich mich, ihm in die Augen zu schauen, mache dann zwei langsame Schritte vorwärts und schnappe mir die Eiweißriegel, um mich sofort zu Benson zurückzuziehen. Ich reiße das Papier auf und nehme einen Bissen, ohne Jay aus den Augen zu lassen.
Um die Wahrheit zu sagen: Er sieht furchtbar aus. Diese Ringe unter den Augen – sie sprechen von mehr als Schlaflosigkeit. Und seine Haut ist in einem merkwürdigen Zustand – als sei sie zu groß geworden und hänge nun von ihm herab. Beinahe als schmelze sie. »Alles klar, Jay?«, frage ich mit einem halb gekauten Riegel im Mund.
Jay antwortet nicht, macht nur eine kleine Bewegung, und Reese und Elizabeth treten aus dem Dickicht hervor und gesellen sich mit derselben zögerlichen Langsamkeit zu ihm. Ich habe schon den nächsten Riegel aufgerissen und einen großen Bissen genommen, aber bei ihrem Anblick wird mein Mund trocken.
Als wüsste ich, dass sie die Wahrheit sagen.
Als ob es wahrscheinlich von Anfang an ein Fehler war, sie zu verlassen.
Aber sie sind immer noch diejenigen, die die Kontrolle über die Waffen haben, die auf mich gerichtet sind – und auf den Typen, den ich liebe. Es ist schwer, sie nicht als Feinde zu sehen, wenn sie mit Waffen auf uns zielen.
»Wir wollen nur reden«, beschwichtigt Reese, bevor ich etwas sagen kann.
»Warum tut ihr das?«, frage ich, als der zweite Riegel weg ist – was erstaunlich schnell geht –, und öffne bereits den dritten. »Ich dachte, ihr wärt Curatoria. Solltet ihr Erdgebundenen nicht helfen?«
Sollten sie?
Sollten sie. Sagt man.
Rebecca hielt sie immerhin für vertrauenswürdiger als die Reduciata, aber was für ein Maßstab ist das?
»Das sind wir«, sagt Reese. »Und wir tun unser Äußerstes, um dich am Leben zu erhalten, aber du machst es uns nicht gerade leicht.«
Der erste Schreck lässt nach und ich habe keine Angst mehr.
Jetzt bin ich stinksauer.
»Wenn ihr mir wenigstens ein kleines bisschen an Informationen anvertraut hättet, wäre ich vielleicht nicht so nervös gewesen. Habt ihr eine Ahnung, wie die letzte Woche für mich war?«, blaffe ich.
»Wenn du uns wenigstens ein kleines bisschen davon erzählt hättest, was du durchmachst, hätten wir dir vielleicht helfen können«, erwidert sie emotionslos.
Ich klappe den Mund zu. Ich werde dieses Schuldzuweisungsspielchen nicht mitspielen. »Ihr seid nicht meine Tante und mein Onkel, oder?«, frage ich, ohne mir Mühe zu geben, den Vorwurf in meiner Stimme zu verbergen.
Die Frage hängt sekundenlang in der Luft. »Nein«, sagt Reese schließlich. »Mein Name ist Samantha. Sammi.«
Ich lache beinahe über den Spitznamen. Er passt zu ihren burschikosen blonden Haaren und der puppenhaften Statur, widerspricht ihrer formellen, geschäftsmäßigen Persönlichkeit aber total. »Und du?«, sage ich und reiße den Kopf zu Jay herum, der, wie ich merke, jetzt an einem Baum lehnt – als sei stehen zu anstrengend.
»Mark. Einfach Mark«, fügt er unbehaglich hinzu.
»Und warum habt ihr so getan, als ob?« Meine Worte sind wie Geschosse.
»Um deine Vormundschaft zu bekommen, ohne dich gleich mit allem auf einmal zu überfallen. Es war schwer genug für dich, mit dem Tod deiner Eltern zurechtzukommen – ganz zu schweigen von dem
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