Der Kuss der Göttin (German Edition)
dass deine unbewussten Instinkte etwas außer Selbsterhaltung tun könnten«, sagt Mark mit – echtem oder unechtem – Mitgefühl in der Stimme. »Du darfst dich deshalb nicht schuldig fühlen, Tavia.«
Tue ich aber.
Wenn ich – auch ohne meine Kräfte bewusst zu verstehen – mich selbst retten konnte, dann hätte ich auch sie retten können.
Und ich habe es nicht getan.
Benson schlingt mir den Arm um die Taille, und ich klammere mich an ihn, zwinge meine Lungen mehrmals, sich zu füllen, obwohl es sich anfühlt, als würde mir ein Messer in die Brust gebohrt.
Die Wahrheit sollte einfach sein. Und das hier ist nicht einfach. Es ist ein Märchen. Und zwar nicht die Märchenprinz-küsst-Prinzessin-Art, sondern die, in der der Wolf die Großmutter frisst, die Meerjungfrau zu Schaum wird und der Tänzerin die Füße abgehauen werden.
»Woher wusstet ihr überhaupt, wer ich bin?«, presse ich hervor.
»Ach, Tave, so viele Nachforschungen«, sagt Sammi, und der bloße Gedanke scheint sie müde zu machen. »Generationen von Nachforschungen. Wir in meiner Familie sind schon seit zehn Generationen Curatoria; die Mitgliedschaft in beiden Bruderschaften ist oft eine Familienangelegenheit.«
»Wie die Mafia«, sagt Benson trocken. Es ist das erste Mal, dass er das Wort ergreift.
Reese wirft ihm einen verärgerten Blick zu, fährt aber fort, als habe er nichts gesagt. »Seit ich mit sechzehn von meinem Vater ausgebildet wurde, verbringe ich mein Leben damit, nach den Erdgebundenen zu suchen. Wir haben eine Menge Methoden, die aber alle weder einfach noch narrensicher sind. Ehrlich gesagt, wenn du nicht in jedem Leben gleich aussehen würdest, glaube ich, wir wären hoffnungslos verloren.«
Ich erinnere mich an die Vision von Rebecca. Längere Haare, aber ansonsten identisch.
»Ich … ich habe, um genau zu sein, eine gewisse Verbindung zu dir«, sagt Sammi.
»Was für eine Verbindung?« Ich kann das Misstrauen nicht aus meiner Stimme heraushalten.
Sie greift in die große Tasche an ihrer Hüfte, und ich trete zurück und breite schützend vor Benson die Arme aus, doch Sammis Hand zieht einen Ordner mit dem Symbol der Feder und der Flamme hervor. Sie kommt auf mich zu, den Ordner wie eine weiße Fahne erhoben.
Es fühlt sich seltsam an, Aktenordner im Wald auszutauschen, während braunes Laub unter unseren Füßen knirscht, aber was an den ganzen Erfahrungen der letzten Tage war nicht merkwürdig? Ich nehme den Ordner vorsichtig und versuche, Sammi nicht aus den Augen zu lassen, selbst als ich den Deckel aufschlage.
Es ist merkwürdig, mein eigenes Gesicht zu sehen, das mir aus einem Bild entgegenschaut, an das ich mich nicht erinnere. Es hat diesen Sepiaton, den alte Fotos annehmen, und ich sehe mich selbst in einem weit ausgeschnittenen Pulli und Jeans mit hohem Bund; ich liege auf dem Bauch und lese ein Buch. »Wann ist das?«, frage ich, während ich die ganzen kleinen Details meines Gesichts studiere, die ich über die Jahre so gut kennengelernt habe.
Es ist seltsam, wie fremd sie jetzt aussehen.
»Vor achtzehn Jahren«, sagt Sammi, und ich erinnere mich an ihre kryptische Aussage von vor ein paar Minuten.
Ich runzle die Stirn. »Ich bin jung gestorben.«
»Ja, das bist du.«
Mit dem Finger berühre ich ein weiteres Gesicht auf dem Foto – das scharfe Kinn einer Samantha im Teenageralter. Kürzere Haare, ein bisschen dünner, aber eindeutig sie. »Das bist du.«
»Ja, das bin ich als Teenager, und das bist du als Sonya. Und trotz allem«, fügt sie mit einem Lachen hinzu, »bist du heute so viel umgänglicher.«
»Streitlustig«, lese ich von der nächsten Seite in der Akte ab, aber es liegt kein Humor in meiner Stimme. Im Moment kann ich noch gar nichts von alledem amüsant finden.
»Das fasst es ganz gut zusammen. Du hast uns nicht vertraut, auch nachdem wir dir deine Erinnerungen zurückgeben konnten. Und du hast uns gar nichts erzählt.«
Ich erreiche das Ende des Dokuments und alles in mir zieht sich ablehnend zusammen. »Hier steht, ich hätte Selbstmord begangen. Wenn ihr Curatoria-Leute so hilfsbereit und vertrauenswürdig seid, warum habe ich das dann getan?«
Sammi schweigt lange und dreht ihren Ehering. Als sie das Wort ergreift, ist ihre Stimme leise und ernst. »Das Band zwischen Partnern ist so stark, dass es für einen Erdgebundenen oft der Lebensinhalt ist. Direkt bevor wir dich fanden, haben wir deinen Partner gefunden. Sein Name war damals Darius. Doch wir waren nicht die
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