Der Kuss der Russalka
konnte ein Volk verkleiden wie einen Wolf im Märchen. Aber es blieb ein Wolf – und sobald die Gelegenheit kam, würde dieser Wolf Deutsche wie Johannes mit Genuss und Grausamkeit verschlingen.
Einer der Bauern wagte ein verächtliches Lächeln und spuckte aus. Andere wandten den Blick ab und bekreuzigten sich. Johannes straffte die Schultern und zwang sich trotz seiner weichen Knie seinen Weg fortzusetzen.
* * *
»Was kann er damit gemeint haben, dass ich das Mädchen zur Weide geschleppt haben soll?« Missmutig rührte Johannes in seiner Kohlsuppe.
Marfa saß ihm gegenüber und versuchte einen Lederhandschuh ihres Mannes zu flicken, der ihn bei der Arbeit vor wundgescheuerten Stellen bewahrte. »Die Gerüchte hat er gehört, das ist alles«, antwortete sie. »Gib nichts darauf, er hätte es zu jedem gesagt. Niemand wird wagen gegen Derejews Verlautbarung etwas einzuwenden.«
»Die Verlautbarung war gelogen«, sagte Johannes leise. »Das wissen wir beide.«
Sie seufzte und leckte den dicken Zwirn an. »Mag sein, mag nicht sein. Vergiss die Geschichte endlich. Sie geht uns nichts an. Denk an etwas anderes. Denk von mir aus an Christine!«
Gegen seinen Willen errötete Johannes, als er den Namen der Kaufmannstochter hörte. Es war ihm peinlich, dass Marfa von ihr wusste, aber in der Deutschen Vorstadt in Moskau blieb nichts lange verborgen.
»Hat sie dir schon geschrieben?«
Niedergeschlagen schüttelte er den Kopf. Er besaß nichts von Christine außer einer Zeichnung, die ihre Schwester angefertigt hatte. Sie hatte das schmale Gesicht mit den zart geschwungenen Augenbrauen gut eingefangen und auch das lange goldbraune Haar, das geflochten und in einem Knoten aufgesteckt war. Aber was das Bild für Johannes besonders wertvoll machte, war Christines Lächeln, ihr leicht abwesender, verträumter Blick und das tiefe Blau ihrer Augen. Wenn er nachts wachlag, stellte sich Johannes vor, wie er eines Tages nach Moskau zurückkehren würde – als Schiffszimmermann. Und dann würde er mehr in seiner Tasche haben als ein paar Erinnerungen und ein Papierbild.
»Vielleicht erlaubt ihr Vater ihr nicht, zu schreiben«, sagte Marfa und biss den Faden ab. »Schon als wir noch in Moskau lebten, hatte er ein paar andere Bewerber für sie ausgesucht.«
Die Richtung, die das Gespräch allmählich nahm, behagte ihm ganz und gar nicht, zumal nun Iwan in der Tür erschien und zum Tisch schlurfte. Johannes wusste nicht, wie lange der alte Leibeigene schon im Türschatten lauschte. Ächzend ließ er sich auf die Bank nieder und griff zum Wasserkrug.
»Na, Wanja?«, sagte Marfa. »Da hinten ist Brot. Nimm dir ein Stück.«
Iwan nickte und murmelte etwas in seinen Bart. Dann holte er sein Schnitzzeug und arbeitete an einem hölzernen Honigtopf weiter, den er am Tag zuvor begonnen hatte. Marfa beendete ihre Arbeit, warf Johannes einen viel sagenden Blick zu und ging in die Werkstatt. Johannes und Iwan blieben allein am Tisch zurück. Schweigend löffelte Johannes seine kalt gewordene Suppe. Obwohl er vor Müdigkeit schon Traumbilder sah, sobald er nur zwinkerte, würde er gleich wieder in die Werkstatt zurückkehren, um Keilecken für ein Gerüst abzumessen und zu sägen. Das war eine langweilige Arbeit, die dennoch getan werden musste. Und sein Onkel traute nur ihm zu, die Winkel richtig zu stellen.
»Mitja ist wieder beim Haus«, murrte Iwan. »Geh ihm aus dem Weg.«
Überrascht sah Johannes hoch. Soweit er sich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass Iwan von sich aus das Wort an ihn richtete. »Ich versuche es«, erwiderte er. »Es ist nicht so, dass ich seine Gesellschaft suche, er sucht meine!«
Iwan nickte knapp. »Der Narr sieht alles«, sagte er leise. »Es lässt ihm keine Ruhe, dass sie dir im Kopf herumspukt.«
Christine?, dachte Johannes unwillkürlich.
»Die Tote«, fuhr Iwan fort, als hätte Johannes diesen Gedanken laut ausgesprochen. »Sie ist immer noch hier, weil du sie nicht fortlässt.« Hastig bekreuzigte er sich auf orthodoxe Art, holte ein winziges hölzernes Kreuz hervor, das er an einer Kette um den Hals trug, und küsste es.
Johannes legte den Löffel hin und schob den halb leeren Suppenteller von sich weg. Mit einem Mal war ihm der Appetit vergangen. Es schien, als hätte Iwan die Wölfe nun auch ins Haus geladen. »Hör auf, Iwan«, sagte er grob. »Ich halte niemanden fest – und wenn es drei Narren behaupten. Lass mich in Ruhe, ja?« Mit diesen Worten stand er auf und ging in die
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