Der Kuss der Russalka
Werkstatt zurück.
Dr. Rosentrosts Monster
Tief in der Nacht, als er wieder wachlag, dämmerte Johannes, wie Recht Iwan hatte. Er hielt die Tote fest -weil er nicht wusste, was mit ihr geschehen war. Warum bemäntelte Derejew ihr Verschwinden mit einer Lügengeschichte? Johannes setzte sich auf und rieb sich die Augen. Es musste längst nach Mitternacht sein. Er hatte das Gefühl, zu ersticken. Er musste hinaus – an die Luft! Ohne besonders darauf zu achten, leise zu sein, nahm er seine Lederweste und ging zur Tür. Draußen atmete er tief durch. Mitja war weit und breit nicht zu sehen.
Die Unruhe, die ihn im Haus erfasst hatte, trieb ihn an der Werkstatt vorbei in nordöstlicher Richtung zum Ufer der Newa. Die weißen Nächte hatten ihren Höhepunkt erreicht, die diffuse Helligkeit eines Sommerabends hüllte ihn ein. Gespenstisch war das Licht in Anbetracht der Stille, die ihn umgab. In den Baracken der Leibeigenen, an denen er vorbeiging, glaubte er das tiefe Atmen der Schlafenden zu hören. Rechts von ihm, in Richtung der großen Morastflächen, sah er in der Ferne gebückte Gestalten, die sich abmühten Eichenpflöcke in den sumpfigen Boden zu schlagen. Sankt Petersburg war keine Stadt, die schlief. Hier wurde in Schichten gearbeitet. In der ersten Schicht waren es etwa achttausend Mann, in der zweiten um die dreitausend. Natürlich veränderte sich die Zahl ständig, nicht nur durch die Toten, sondern vor allem dadurch, dass viele Arbeiter einfach davonliefen. Verdenken konnte Johannes es den armseligen Gestalten nicht. Ständig strömten neue Fronarbeiter aus allen Teilen des Zarenreiches herbei. Männer und Frauen, meistens Bauern, manchmal auch Soldaten und Sträflinge. Meist waren sie schon von der langen Reise erschöpft und am Rande ihrer Kräfte. Johannes ertappte sich dabei, wie er den Blick von den Arbeitern abwandte. Noch ein, zwei Meilen am Newaufer entlang und er würde die Baracken und Baustellen für eine Weile hinter sich lassen können.
Ganz ungefährlich war es nicht, allein in der Nacht herumzulaufen, aber er liebte nicht nur die Ruhe und diese Zeit, die ihm nun ganz allein gehörte, sondern auch den Anflug von Gefahr und die Wachsamkeit, die ihm jede Faser seines Körpers bewusst werden ließ. Seit die Winterstürme aufgehört hatten, war er nachts ab und zu der Arbeit entflohen und hatte sich auf seinen nächtlichen Spaziergängen zum Wasser ein wenig Zeit gestohlen – meist um ungestört an Christine zu denken. Heute führten ihn seine Schritte an den Rand der Siedlung und noch weiter zum glänzenden Band der Newa, die sich wie eine träge Schöne in ihrem Flussbett räkelte und ihre Arme um die Inseln schlang. Am anderen Ufer erhob sich der Schatten einer russischen Korvette. Sie war leichter als die schweren Linienschiffe, die bis zu hundertzwanzig Kanonen trugen. Diese Fregatte hier lag jedoch tief im Wasser. Fasziniert betrachtete Johannes die halb gerefften, rechteckigen Rahsegel. Das Schiff schien zu schlafen, aber die Wachen auf dem Schiff hatten ihn vermutlich längst erspäht – eine einsame Gestalt, die sehnsüchtig zu ihnen herüberstarrte. Er ging so nah an den Fluss heran, dass er beinahe nasse Füße bekam, und wanderte dann ostwärts weiter in Richtung der schwedischen Festungsruine. Ein dünner Nebelschleier wehte über die Wasseroberfläche und fing sich im Schilf am Ufer. Verkrüppeltes Buschwerk schien sich im nebelverhangenen Spiegel der Wasseroberfläche zu betrachten. Und weiter vorne, etwa eine Viertelmeile entfernt, wie Johannes schätzte, stand ein Baum, der aussah wie das verzerrte und in die Breite gezogene Spiegelbild einer Eiche. Johannes wunderte sich, dass sie noch unversehrt am Ufer stand und nicht längst zerhackt und verwertet worden war. Jemand hatte eine Scharte in den Stamm geschlagen. Darin eingeklemmt war das Bildnis der Gottesmutter. Ihr goldener Heiligenschein glänzte im geisterhaften Licht. Die kleine Ikone erklärte vielleicht, warum der Baum noch unberührt war. Johannes entfernte sich vom Ufer, um die heilige Eiche von der anderen Seite zu betrachten. Der Stamm war gerade gewachsen – er würde sich hervorragend dazu eignen, einen Mast daraus anzufertigen. In Gedanken begann Johannes damit, sein Schiff zu bauen – eine schlanke, in niederländischem Stil gefertigte Jacht, die die Wellen schnitt wie eine Sense das Gras. Mit diesem einmastigen Küstenschiff könnte er nach Dänemark segeln oder sogar viel weiter, als er es sich je
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