Der Kuss der Russalka
waren bis zu den Ohren abgeschnitten, und wie die meisten Bauern trugen auch diese hier Pelzkappen, obwohl es Sommer war. Auch wenn sie sich abweisend und schweigsam gaben, sah Johannes ihnen an, wie froh sie waren, nicht mehr ohne Werkzeuge und Schubkarren mit bloßen Händen Erde in grobe Stoffsäcke füllen zu müssen, mit der das sumpfige Land aufgeschüttet wurde. Mochten sie auch zu Hause in ihren Dörfern in Hütten gewohnt haben – hier waren sie in feuchten, schmutzigen Verschlägen untergebracht, mussten schlechtes Wasser trinken und erhielten nur wenige Werkzeuge. Viele waren unter der Knute der Aufseher gezwungen, die Erde, die sie transportieren mussten, einfach mit den Händen in die Jacken zu schaufeln; Johannes hatte auch Bauersfrauen gesehen, die dafür ihre Rockschöße benutzten. Nun, zumindest für die Zeit ihrer Schicht in Michaels Werkstatt würden die Leibeigenen unter besseren Bedingungen arbeiten.
Erst ein paar Tage später fiel Johannes auf, wie oft der Gottesnarr Mitja in der Nähe der Werkstatt saß. Anscheinend tat er dort nichts, als vor sich auf den Boden zu starren und mit wiegendem Oberkörper Soldatenlieder zu singen, aber Johannes wusste sehr wohl, dass der Narr ihn beobachtete. Als Marfa ihn bemerkte, brachte sie ihm Brot und sprach freundlich mit ihm. Einer der Gehilfen ließ sich von ihm sogar segnen, eine Handlung, die Johannes wieder einmal befremdete. Ihm war die Anwesenheit des Verrückten unangenehm. Mehr als einmal stand er nachts auf und schaute auf die Straße, wo er die Gestalt zu sehen glaubte. Doch auch ohne Mitjas Anwesenheit waren Johannes’ Nächte sehr kurz. Noch immer schob sich das Bild des toten Mädchens in seine Gedanken. Beinahe zur Besessenheit wurde die Frage, wer sie wirklich war und wohin sie verschwunden war. Aber selbst unauffällige Erkundungen bei den anderen Handwerkern und bei dem Münzschläger, der in der Festung arbeitete und sich von Michael eine Geldkassette fertigen ließ, brachten kein Ergebnis.
Eines Morgens trat Johannes aus der Werkstatt und stolperte beinahe über Mitja, der sich wie ein Wachhund vor der Tür zusammengekauert hatte. Der Narr schrie auf und sprang auf die Beine. »Gestohlen hast du sie!«, brüllte er und stach mit dem Zeigefinger in Richtung von Johannes’ Auge in die Luft. »Dem Herrgott aus den Armen gerissen!« Dann begann er zu weinen. Tränen rannen über sein schmutziges Gesicht. »Zu der Weide hast du sie geschleppt und sie ertränkt wie eine Katze.« Einige der Arbeiter sahen herüber und durchbohrten Johannes mit grimmigen Blicken. Ihm war unbehaglich zumute. Die Worte des Narren konnten ihm schnell gefährlich werden. Alles in ihm wehrte sich dagegen, den feindseligen Verrückten anzulächeln, dennoch versuchte er einen freundlichen Eindruck zu machen.
»Lass mich vorbei, Mitja«, sagte er versöhnlich. »Ich habe dir niemanden gestohlen.«
Mitja wischte sich mit dem schmutzigen Ärmel über das Gesicht und schmierte Spucke und Tränen über die Wange. Ein seltsames Muster aus dunklen und hellen Schlieren blieb auf seinem Gesicht zurück und ließ ihn noch verrückter und fremder aussehen. Seine Augen glühten vor Hass und Verzweiflung. »So viele Katzen!«, kreischte er. »Alle hast du sie aufgefressen! Und die räudigen Felle breitest du über Gottes goldenen Kelch.«
Seine Stimme schraubte sich hoch. Dann, plötzlich, drehte er sich um und fegte über den Platz. Mitten im Lauf blieb er stehen, schlitterte und verlor beinahe das Gleichgewicht.
»Ich rechne euch aus!«, schrie er drohend. »Jede Stunde! Ich bin Mathematiker!«
Als ihm keiner antwortete, rannte er davon. Die Gesichter der Arbeiter wandten sich Johannes zu. Eine Sekunde lang konnte er in den Augen der Leibeigenen lesen wie in einem Buch. Im Spiegel ihrer hasserfüllten Blicke sah er sich selbst: einen Eindringling und Ketzer, den der Teufel geschickt hatte. Schuld daran, dass der Zar sich vom alten Russland abgewandt hatte, um auf dem Rücken seiner Arbeiter ein neues Reich zu errichten. Die Ausländer, die Deutschen, die Ausbeuter und Gesandten des Teufels. In diesem Augenblick begriff Johannes, dass Zar Peters Befehle, seine Neuerungen und seine großen Pläne nur die dünne Kruste über einem uralten kochenden Vulkan bildeten. Oben auf der Kruste lebten Zar Peters Leute, glatt rasiert und nach französischer, deutscher oder ungarischer Mode gekleidet. Tief unten aber, im brodelnden Kessel, sammelten sich die einfachen Bauern. Man
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