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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Moskau.
    »Geschwätz war es, nichts weiter, Herr«, sagte ein Bauer mit rotem Haar. Er lächelte unterwürfig und hob die Schultern. »Nehmt es nicht ernst und verzeiht uns, Herr. Der Hunger treibt uns zuweilen Flüche auf die Lippen.«
    Furcht leuchtete in den Gesichtern der anderen auf. Johannes schob seine Fäuste in die Hosentaschen. Zehn Augenpaare verfolgten jede seiner Bewegungen, als er mitten durch die Front hindurchschritt und ins Haus ging.
    * * *
    Er kam erst zur Ruhe, als es Nacht wurde. Iwan schlief heute nicht in der Stube, sondern hatte sein Lager bei den Gehilfen in der Werkstatt aufgeschlagen. Inzwischen war es schon Ende Juli und die Nächte wurden düsterer. Leise holte Johannes einen Kerzenstummel hervor, den er seit seiner Reise nach Russland in einem Kästchen aufhob, und zündete den geschwärzten Docht an. Die kleine Flamme trieb im Dämmerlicht wie ein Irrlicht im Moor. Nebenan redete Onkel Michael im Schlaf und warf sich auf seinem Lager herum.
    Johannes rutschte zur Wand, lehnte sich gegen das Holz und vergrub das Gesicht in den Händen. Endlich konnte er sich eingestehen, dass er Angst hatte. Warum hatte Mitja den Brief zerstört? Auch wenn nichts Wichtiges darin geschrieben stand, fühlte es sich an, als hätte der Narr die sanfte Kaufmannstochter vor Johannes’ Augen geohrfeigt.
    Nach einer Weile stand Johannes auf und hob behutsam den Deckel von der Bank, auf der er sein Lager aufgeschlagen hatte. Der schmale Fußteil diente auch als Truhe, in der er seine wenigen Habseligkeiten verstaut hatte. Ganz unten, unter den Winterstiefeln und der Pelzmütze, die ihm Marfa für seinen ersten Winter in Moskau hatte anfertigen lassen, lag eine Holzkiste. Sorgfältig hatte Johannes sie in einen Wollschal gewickelt. Nun holte er das Kästchen hervor und öffnete es behutsam. Im blinzelnden Kerzenlicht erkannte er die wohl vertrauten Kanten abgegriffener Briefe. Viele waren es nicht, lediglich ein halbes Dutzend, aber sie in die Hand zu nehmen war so, als würde er seine Familie wieder umarmen können.
    Die ungelenke Schrift seines Bruders prangte auf gelblichem Grund. Eine grobe Feder hatte an einigen Stellen Fasern und Fetzen aus dem Papier geschabt. Simon hatte harte Hände gehabt und nie richtig schreiben gelernt. Allerdings war er zu stolz gewesen einen Schreiber anzuheuern. Der letzte Brief von ihm war aus Hamburg gekommen. Simon erzählte darin von den Arbeiten auf dem Schiff und einem Fass mit verdorbenem Wasser, das stank wie eine Kloake. Der Brief kam gleichzeitig mit der Nachricht, dass das Schiff während eines Sturms gesunken war. Johannes strich mit der Hand das Papier behutsam glatt.
    Der alte Kummer begann in seiner Brust zu pochen. Simon, sein Bruder! Ein anderer Brief war von seinem Vater und ein alter, sehr abgegriffener von Onkel Michael. Vor vielen Jahren hatte Michael ihn an Johannes’ Vater geschrieben. Eng beschrieben war er, fehlerhaft und mit so vielen russischen Ausdrücken durchsetzt, dass er Johannes erschienen war wie der Brief eines fremden, exotischen Wesens. Lächelnd betrachtete Johannes die Zeichnung eines Perückenstocks, den Michael für einen deutschen Gesandten angefertigt hatte. Damals arbeitete Michael noch im Dienst eines Tischlers und Kistenmachers. Die besten Kisten stellte jedoch Michael her. Unter der Schrift war ein quadratisches Kästchen abgebildet. Akkurat ausgeführt war die Zeichnung eines ungewöhnlichen Wappens. Ein Adliger hatte dieses Meisterstück in Auftrag gegeben. Die Intarsien zu schnitzen musste viel Arbeit gewesen sein.
    Ganz hinten, gut versteckt zwischen zwei Blatt Papier befand sich Christines Bildnis. Geheimnisvoll und sanft lächelte sie ihm zu, aber selbst die Russalka erschien ihm wirklicher als das Mädchen, um das er sich in Moskau so sehr bemüht hatte.
    * * *
    Die Müdigkeit machte ihm zu schaffen, trotzdem schlug er schon in der nächsten Nacht den Weg zum Newaufer ein. An der Weide fand er Jewgenij nicht, also lief er weiter stromaufwärts. Weit hinter sich hörte er die Stimmen der Stadt. Der Wind stand so günstig, dass die fernen Rufe der Arbeiter, die ihre Nachtschicht hinter sich brachten, bis zu ihm getragen wurden. Schläfrig schaukelte ein kleineres Transportboot in Richtung Haseninsel. Die Nacht war bereits so düster, dass Johannes mehrmals stolperte. Schon glaubte er, dass er Jewgenij heute nicht treffen würde, als er am Ufersaum etwas Helles aufblitzen sah. Buschwerk versperrte ihm die Sicht, aber als er

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