Der Kuss der Russalka
Um den Moment zu überbrücken, nahm er einen tiefen Schluck von dem Wein. Er schmeckte schwer und würzig und stieg ihm sofort in den Kopf. Er fühlte sich stark und freute sich über das Lob. »Nein danke«, sagte er schließlich. »Wenn es nötig sein sollte, werde ich selbst mit meinem Onkel sprechen.«
»Trezzini braucht gute Leute. Dort drüben«, Sund deutete in Richtung der Holzkathedrale, »wird einst die mächtigste und schönste Kirche des Zarenreiches stehen. Du kannst ein angesehener Palastzimmermann werden – oder als Tischler Türen und Täfelungen fertigen.«
Johannes starrte nachdenklich in seinen Wein. Möglichkeiten blitzten darin auf und tauchten wieder ab, doch eine Frage ließ sich nicht vertreiben. »Und was ist, wenn der Zar stirbt und es gar keine Paläste geben wird?«
Der Baumeister starrte ihn an, als hätte er gefragt, was geschähe, würde die Sonne verlöschen. »Wieso sollte er sterben?«, fragte er.
»Im Gefecht möglicherweise«, beeilte sich Johannes zu sagen. »Oder an einer Krankheit – an der Brustwassersucht vielleicht oder am Fieber. Auch Zar Peter ist nur ein Mensch. Alles hängt an seiner Macht und seinen Entscheidungen, vor allem wir, die er in sein Reich geholt hat. Die Bauern hassen uns.«
Sund schüttelte den Kopf. »Natürlich hassen uns die Bauern. Alle Sklaven hassen ihre Herren, sieh nach oben, Johannes, niemals nach unten, hörst du? Sollte er umkommen, was Gott verhindern möge, wird ein anderer Zar an seiner Stelle regieren. Für gute Zimmerleute wird es immer Arbeit geben.«
Johannes nahm noch einen Schluck Wein. »Ich will nicht mein ganzes Leben lang Türen herstellen, Meister Sund. Aber ich danke für das Angebot.« Sund verzog den Mund. »Was ist verkehrt an Türen?«, sagte er ärgerlich. »Was willst du dann?«
»Schiffe«, erwiderte Johannes.
Carsten Sund starrte ihn perplex an, dann begann er zu lachen. Mit seiner breiten Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn und seufzte. »Schiffe, soso. Nun gut, pass auf, ich mache dir einen Vorschlag: Bei mir könntest du genug Geld verdienen, um später sogar dein eigenes Schiff zu bauen. Ich kenne Leute, wichtige Leute, auch in der Werft. Du könntest Schiffszimmermann werden, später Schiffsbaumeister – und dann erlernen selbst ein Schiff zu segeln.« Er lehnte sich zurück und zupfte sein Halstuch zurecht. Er sah aus, als würden hinter seinem gemütlichen Gesicht viele Gedanken einen schweren Kampf ausfechten. Strategien wurden erwogen und verworfen. Staunend wurde Johannes klar, wie viel Carsten Sund daran lag, ihn abzuwerben. Ein bisschen machte ihn diese Erkenntnis stolz.
»Ich möchte dir für den Anfang beweisen, dass ich dir viele Tore öffnen kann«, sagte Sund nun. »Du verkaufst mir eins deiner Modellschiffe. Ich brauche ohnehin ein Geschenk für … eine wichtige Person. Du wirst sehen, wie schnell man in der Werft deinen Namen kennen wird. Du kannst diese Verbindungen nutzen – unter der Bedingung, dass du zwei Jahre bei mir arbeitest und nur meine Aufträge annimmst.« Er lächelte schmal. »Es liegt an dir.«
Für einen Augenblick war Johannes versucht. Der Wein ließ seine Lider angenehm schwer werden. Der Weg, der sich vor ihm auftat, war erstaunlich gerade und einfach zu gehen. Da war nur ein Hindernis: sein Onkel. Er konnte ihn nicht alleine in seiner Werkstatt zurücklassen. Lange würden seine Hände nicht mehr zur Arbeit taugen, die Gelenkschmerzen machten ihm immer mehr zu schaffen. Andererseits – wenn er für Sund arbeitete, konnte er einen Teil seines Lohns Marfa und Michael geben.
»Ich überlege es mir«, sagte er und kam sich vor wie ein Verräter.
»Mehr wollte ich nicht hören, Zimmermann!«, rief Sund und stürzte den Rest des Weines in einem Zug hinunter.
Das fertige Gerüst sah majestätisch aus, fand Johannes. Stolz und Wein pochten durch seine Adern und wärmten ihn. Nicht einmal eine Sturmflut würde das Gerüst umreißen. Er freute sich darauf, Jewgenij davon zu erzählen.
Erst als er schon pfeifend auf dem Weg zum Newator war, fiel ihm Marfas Brief wieder ein. Er griff in seinen Lederbeutel, den er sich über die Schulter geworfen hatte, und suchte nach dem Brief. Da war er, ein wenig zerknittert zwar, aber kunstvoll versiegelt und sehr offiziell. Es ärgerte Johannes, dass die Knie ihm plötzlich weich wurden. Er war nicht schuldig, warum fühlte er sich dann so, als könnte er ertappt werden? Er würde Marfas Brief im Kommandantenhaus
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