Der Kuss der Russalka
über der Kammer, sie setzten sich zusammen um flüstern zu können und besprachen mögliche Strategien.
Mit dem Finger zeichnete Johannes die Grundrisse der Häuser, wie er sie aus Moskau kannte – alte ehrwürdige Gebäude mit einem großen Raum hinter dem Eingang und mehreren kleinen Räumen darüber. »In den einstöckigen Häusern sind hier gewöhnlich die Bediensteten untergebracht«, sagte er und zeigte auf ein paar winzige Verschlage. »Der Herr schläft im Zimmer neben oder über dem Empfangszimmer. Wenn wir Glück haben, hält Karpakow sich daran.«
»Wir werden es herausfinden«, meinte Jelena zuversichtlich. Ihre Wangen glühten vor Eifer. Wieder einmal fragte sich Johannes, wie er sie jemals für einen rüpelhaften Jungen hatte halten können. Die Intensität, die von Jelena ausging, und das Gefühl, dem Ziel zum Greifen nah zu sein, vertrieben seine Müdigkeit. Das letzte Klopfen von Schritten war längst verklungen, als sie sich vor die Tür wagten – und gleich wieder den Rückzug antraten. Kolja schlief am Ende des Gangs in einem Sessel. Er war so in sich zusammengesunken, dass der Kragen seines kurzen Mantels ihm bis über die Ohren gerutscht war. In seiner schlaffen Hand lag eine Pistole. Behutsam schloss Johannes die Tür. Bei jedem Schritt knarrte das Dielenholz erschreckend laut.
»Er bewacht seine Gäste«, sagte er.
»Dann gehen wir über das Fenster«, flüsterte Jelena.
Für Johannes war es schwierig, sich durch die Öffnung zu zwängen, ohne sich blaue Flecken und eine Beule am Kopf zu holen. Der dicke Hofhund, der das Areal bewachen sollte, sah aus, als wäre er soeben an Altersschwäche verschieden, vermutlich war er zumindest taub oder krank.
Ein großer, heller Mond schmückte den Himmel, der immer noch nicht so dunkelblau war wie im Herbst und nicht so schwarz wie im Winter. Fette Ratten starrten die beiden Wanderer ungehalten an und watschelten dann vor ihnen über die Straßen. Jelena und Johannes umgingen eine Wache und zwei Gestalten, die murmelnd unter einem Vordach standen. In manchen Häusern blinkte noch Lichtschein in den Ritzen zwischen den Flügeln der Fensterläden. Sie schafften es, unbehelligt in den schöneren Teil der Stadt zu kommen. Wie ein unheilvoller Wächter erhob sich die Kirche in den Nachthimmel. Auf den Feuertürmen standen die Wächter und dachten sich wohl ihren Teil, wenn sie zu nächtlicher Stunde noch Gestalten über die Straßen huschen sahen.
In Karpakows Haus war kein Licht, aber ein Knecht saß vor dem Stall und schlief im Sitzen an die Wand gelehnt. Johannes vermutete, sein Herr würde ihn durchprügeln lassen, wenn er wüsste, dass er seine Wache verschlief. Pferde scharrten in dem lang gezogenen Stallgebäude. Johannes konnte sie beinahe vor sich sehen – dunkle, wolkige Leiber und glänzende Augen.
»Welches Fenster gehört zu den Herrenzimmern?«, raunte Jelena ihm zu.
Johannes deutete auf ein Fenster, das über dem letzten Teil der Pferdeställe lag. Jelena nickte, dann bedeutete sie ihm zu warten und schlich über den Hof. Mit lautlosen Bewegungen zog sie sich am Stall hoch, kam auf dem Dach an und stellte sich auf die Zehenspitzen. Mit vor Aufregung zusammengebissenen Zähnen verfolgte Johannes, wie sie durch das Fenster lugte. Der Mond warf ihren Schatten an die hölzernen Fensterläden, die sie nun vorsichtig weiter auseinander klappte. Mit zwei Kletterbewegungen und einem Satz hangelte sich Jelena wieder vom Gebäude herunter. Rasch zogen sie sich zurück.
»Das Zimmer ist leer«, flüsterte Jelena. »Soviel ich im Mondlicht erkennen konnte, ist es eine Kammer, in der viele Kisten stehen. Ich glaube, Karpakow bereitet sich auf die Abreise vor. Da waren Stoffe … und Reisekisten.«
»Aber war niemand im Zimmer?«
Sie schüttelte den Kopf. »Eine gute Gelegenheit, dort oben einzusteigen.« Sie griff nach ihrem Gürtel und löste den Beutel, in dem sich die gefärbte Perle befand. »Hier!«
»Was soll ich damit?«
»Die richtige Perle wird in einer verschlossenen Kiste sein. Du kannst sie öffnen – außerdem bist du stärker als ich. Ich werde Wache halten. Sollte etwas schief gehen, werde ich die Pferde aus dem Stall lassen. Wenn die Leute denken, dass der Einbrecher Pferde stiehlt, wird sich niemand mehr darum kümmern, was im Haus vor sich geht. Und schließlich …«, ihr Lächeln blitzte auf, »… kann ich schneller laufen als du und mich vor meinen Verfolgern besser in Sicherheit bringen.«
Johannes stellte
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