Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
wie ein Schrein -ein Schrein für ein Messer? Links von dem Schrank befanden sich ein Tisch und ein mit Leder bespannter Stuhl. Über der Lehne lagen ein russischer Kaftan und ein prachtvoller Bojarenmantel. Zobelpelz glänzte im Licht einer Kerze, die in einem einfachen Tongefäß flackerte. Es stellte einen Mann mit aufgerissenem Mund dar; Johannes kannte solche altertümlichen »Maulaffen« aus den Erzählungen seines Onkels. Normalerweise dienten sie als Halter für glimmende Kienspäne, die nur wenig Licht gaben. Karpakow schien sich nur für seinen seltsamen Schrein einen schönen Kerzenständer zu leisten.
    Erst jetzt kam Johannes der Gedanke, dass der Adlige jeden Augenblick zurückkehren konnte. Ruhig!, befahl er sich. Im Notfall waren es nur zwei Schritte zurück in die Kammer mit den Kisten. Neben dem Maulaffen stand eine irdene Schale. Runde Kupfermünzen und ein viereckiges Medaillon lagen darin. Auf den Münzen waren je eine Nase und ein Lippenpaar abgebildet. Der Mund war eingerahmt von einem Schnurrbart und einem langen Kinnbart. Die Schrift darüber besagte, dass das Geld eingezogen worden war. Das musste die Quittungsmünze für die bezahlte Bartsteuer sein! Allerdings hielt Karpakow es wohl nicht für nötig, das viereckige Abzeichen an einer Halskette zu tragen, das ihn als Menschen auswies, der den Preis für seinen Bart bezahlt hatte. Der Tisch sah aus wie ein Gemälde – Papier lag darauf und eine Feder, deren Tintenspitze allerdings trocken war. Johannes trat heran und warf einen Blick auf die Schriften. Er brauchte mehrere Augenblicke, um die Tatsache, die ihm ins Gesicht schrie, zu begreifen. Vor ihm lag eine Liste. In gestochen schöner Schrift waren Namen darauf verzeichnet. »Michael Brehm« stand dort. Und etwas weiter unten: »Johannes Brehm«. Alles Blut schien aus seinen Fingern zu weichen. Er sah tanzende Punkte und musste sich an der Lehne festhalten, bevor er weiterlesen konnte. Es erstaunte ihn nicht, als er weiter unten den Namen Jewgenij Michailowitsch Skasarow las. Karpakows Plan klappte vor ihm auf wie ein Buch. Er und Derejew planten nicht nur den Zaren zu stürzen – sie würden auch die Ausländer bezahlen lassen. Hinrichtungen würden stattfinden. Schauprozesse. Unter Karpakows Papieren lugte eine Skizze hervor, die Johannes bekannt vorkam. Er wischte den Ruß von seinem Daumen und Zeigefinger und zog die Skizze, so behutsam er vermochte, hervor. Es war eine Karte des Newadeltas – sie stammte von Derejew. Ein gekritzelter Doppeladler war eingezeichnet, dazu mehrere Kreuze und Randbemerkungen. Sie hatten die Wege und Gewohnheiten von Zar Peter studiert. „Wenn alles so lief, wie sie es sich vorstellten, würde er an diesem Morgen in zwei Tagen auf der Petrograder Insel sein – bei seinem Holzhaus. Dort, wo die Flut ihn verschlingen würde. Eine ganze Liste mit Namen und hohen Rubelbeträgen erzählte eine weitere Geschichte. Johannes ballte die Hände zu Fäusten. Auch die Kanalplaner waren bestochen worden. Vermutlich hatte Derejew über Mittelsmänner sogar den Streit zwischen dem Generalarchitekten und Zar Peters Freund Menschikow gezielt so lange geschürt, bis Menschikow befahl die Kanäle in der Tiefe auszuheben, die er für die richtige hielt. So waren sie nicht tief genug, um das Wasser einer Flut aufzufangen. Das ganze klebrige Netz einer zobelgeschmückten Spinne spann sich vor Johannes’ Augen von Moskau bis zu den Russalkas.
    Hastig wandte er sich ab und begann fieberhaft zu suchen. Er hatte weniger Zeit, als er dachte. Verzweiflung schnürte ihm die Brust ein und gab ihm das Gefühl, zu ersticken. Er fand keine Truhe in dem Raum, also ging er weiter und zu einem schweren Vorhang. Vorsichtig schob er ihn beiseite. Eine weitere Kammer! Ein mit Schnitzereien verzierter, thronähnlicher Stuhl mit hoher Lehne stand am Fenster, daneben befand sich ein Bett, über dem grüngoldene Tücher einen schimmernden Himmel bildeten. Nicht weit vom Bett stand eine Kommode – und darauf mehrere Heiligenbilder in schweren Holzrahmen. Hier also war die Ikonenecke. Ganz vorne stand ein Bild des heiligen Nikolaus, des Schutzpatrons Russlands. Alle Bildnisse mussten sehr alt sein, denn auch vom Nimbus des heiligen Georg blätterte bereits hauchdünnes Gold ab. Vorwurfsvoll sah eine Madonna den rußschwarzen Störenfried an, der ins Zimmer schlich.
    Johannes störte ein seltsamer, unbestimmter Geruch, der das Zimmer durchdrang, aber er konzentrierte sich mit aller Kraft

Weitere Kostenlose Bücher