Der Kuss der Russalka
darauf, im Halbdunkel etwas zu erkennen. Jeder Muskel in seinem Körper fühlte sich wie eine zu straff gespannte Geigensaite. Das Licht der Kerze fiel durch den Vorhangspalt und ließ einen silbernen Fisch mit Flügeln aufleuchten. Da war sie! Ein wildes Triumphgefühl drängte sich in seine Kehle. Am liebsten hätte er gejubelt. Die Truhe stand direkt neben dem Bett, natürlich. Mit zwei Schritten war Johannes bei ihr und betastete die Scharniere und das Schloss. Seine Finger fanden Rillen, Vertiefungen und einen kantigen Einsatz. Die Truhe war verschlossen. Damit hatte er gerechnet. Das Stück, in dem das Schloss eingelassen war, bestand nicht aus der glatten schwarzen Mooreiche, sondern war aus etwas weicherem Holz. Voller Eifer griff Johannes zu seinem Gürtel und zückte seinen geheimen Schlüssel mit den Holz– und Eisenzähnen. Endlich kehrte ein vages Gefühl der Sicherheit zurück. Es klackte, als er den dritten Stift in das Schloss schob. Johannes hielt inne und lauschte, dann versenkte er sich ganz in den Mechanismus. Mit einem leisen Klicken gab das Schloss nach und öffnete sich. Erleichtert atmete Johannes durch. Mühelos ließ sich der Deckel nun aufklappen. Der Duft von altem eingeöltem Holz umströmte Johannes. Ewigkeiten hatte die Eiche im Moor gelegen. Die Jahre in diesem nassen Grab hatten das Holz schwarz gefärbt und es hart werden lassen. In der Truhe befand sich eine kleinere Kiste aus beinahe weißem Holz. Ihr Deckel war nur aufgesteckt.
Gerade wollte Johannes danach greifen, als er ein Scharren hörte. Ohne nachzudenken schnellte er zurück und rumpelte mit dem Ellenbogen schmerzhaft gegen eine Ikone. Sie schwankte und kippte. Johannes sah sich selbst wie aus weiter Ferne – ein blonder Dieb, dessen Hand nach vorne schoss und die Ikone fing, gerade bevor sie auf dem Boden aufschlagen konnte. Dann war er wieder bei sich – das Blut dröhnte in seinen Ohren, er schwitzte vor Schreck. In der Bewegung erstarrt lauschte er. Kam Karpakow ins Zimmer zurück? Gehetzt sah er sich nach einem Versteck um. Die Vorhänge am Fußende des Bettes dort konnte er sich verbergen. Aber eben, als er den Deckel wieder so leise wie möglich zugeklappt hatte und losschnellen wollte, erkannte er zweierlei: zum Ersten, dass das Geräusch nicht von draußen gekommen war. Zum anderen bewegte sich etwas in dem Lehnstuhl. Eine Hand lag auf der Lehne. Eine alte Hand mit unglaublich vielen Ringen.
»Wer bist du?«, fragte eine heisere, trunkene Stimme. »Ich höre dich.« Die Aussprache war verwaschen und mit einem Mal konnte Johannes auch den seltsamen Geruch im Zimmer zuordnen. Es stank nach schnapsgetränkten Atemzügen. Das kann nicht Karpakow sein, dachte er. Als altehrwürdiger Gläubiger wird er sich nicht betrinken. Oder doch?
In diesem Augenblick verschwand die Hand und ein gewaltiger Schatten löste sich von der Lehne. Im Dämmerlicht des Zimmers leuchtete langes weißes Haar. Der Bojar schwankte und griff nach der Lehne, dann drehte er sich um und trat neben den Stuhl. Ein verwüstetes, rotes Gesicht erschien, aus dem der Stolz noch nicht gewichen war. Der Bart fiel ihm bis auf die Brust. Zwischen seinen Augen klaffte eine waagrechte Scharte, als hätte er dort vor Jahren einen Schwerthieb oder einen Stich erlitten. Ketten schmückten seine breite Brust. Karpakow war ein gebrochener Riese mit stechenden Augen, die nun weit aufgerissen waren. Panik zeichnete sich in dem zerfurchten Gesicht ab. Seine Finger waren weiß, so fest klammerte er sich an die Lehne. Johannes saß in der Falle.
»Du bist es«, flüsterte der Alte. Seine Gesichtsfarbe wechselte von Rot zu einem gespenstischen Weiß. »Der Teufel!«
Im Spiegel von Karpakows entsetzten Augen sah sich Johannes plötzlich so, wie der alte Mann ihn wahrnehmen musste – eine lauernde Gestalt mit schwarzem Gesicht und hellem Haar, das im Kerzenschein leuchtete. Eine Chance blinkte wie ein Spanfunke in der Dunkelheit auf. Er kam sich vor, als würde er auf einem schmalen Dachvorsprung balancieren. Noch war Karpakow von der Trunkenheit und vom Schlaf benebelt, noch wusste er nicht, was wirklich war und was er nur träumte. Er würde nicht fliehen, beschloss Johannes. Solange Karpakow glaubte, er sei der Teufel, würde er nicht nach seinem Gesinde rufen.
»Du siehst gut, alter Mann«, sagte Johannes leise und übertrieb seinen deutschen Akzent. »Ich bin hier, Karpakow! Wage es nicht, Hilfe zu rufen. Wer mein Antlitz sieht, wird dort verbrennen, wo er
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