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Der Kuß der Schlange

Der Kuß der Schlange

Titel: Der Kuß der Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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schöne Aussicht über all die kleinen Dächer. Darf ich mich setzen?«
    Wexford hielt ihr bereits einen Stuhl hin. Er mußte daran denken, daß Dora von dieser Frau gesagt hatte, sie ›interessiere sich sehr für Männer‹. Und er fügte dieser Feststellung seine eigene hinzu, nämlich, daß sich Männer sehr für sie interessierten. Sie war dunkel, ihr üppiges Haar ein leuchtendes Kastanienbraun – wahrscheinlich gefärbt. Aber ihre Haut hatte einen rosig-bernsteinfarbenen Schimmer bewahrt, eine Pfirsichhaut. Ein zartes Leuchten schien unter der Oberfläche zu glimmen, so wie man es bisweilen auf den Gesichtern junger Mädchen oder auf Kindergesichtern sieht, ein Glanz, der sich jedoch selten bis ins mittlere Alter erhält. Die roten Lippen schienen immer einem Lächeln nahe. Es war, als kenne sie ein köstliches Geheimnis, das sie beinahe, aber nie ganz enthüllen würde. Ihr Kleid war genau so, wie nach Wexfords Meinung ein Frauenkleid sein sollte – weiter Rock, enge Taille, aus altrosa und blau bedruckter Baumwolle, mit tiefem Ausschnitt, in dem großzügig die sanften Ansätze eines vollen, goldenen Busens zu sehen waren. Sie merkte, daß er sie aufmerksam betrachtete, und es war, als genieße sie seinen prüfenden Blick, als schwelge sie insgeheim darin, als wisse sie besser als er selbst, was er bedeutete.
    Abrupt wandte er seine Augen ab. »Sie wohnen in dem Haus am Ende der Wool Lane in Richtung Kingsmarkham, nicht wahr?«
    »Ja. Es heißt ›Sunnybank‹. Ich finde immer, das klingt nach psychiatrischer Klinik. Aber mein verstorbener Mann hat den Namen ausgesucht, und er wird seine Gründe gehabt haben.«
    Wexford machte den entschlossenen und wohl auch erfolgreichen Versuch, ernst auszusehen. »Waren Sie eine Freundin von Angela Hathall?«
    »Oh, nein.« Ihm kam der Gedanke, daß sie zu sagen imstande wäre, weibliche Freunde habe sie nicht, was ihm mißfallen hätte, aber das sagte sie nicht. »Nein, ich bin bloß wegen der Mirakel hingegangen.«
    »Wegen der … was?«
    »Ach Verzeihung, das ist so ein privater Spaß. Ich meinte, wegen der gelben Eierpflaumen.«
    »Ah, Mirabellen?« Dies war das zweite verballhornte Fremdwort des Tages, doch diesmal war es Absicht. »Sie sind gestern hingegangen, um Pflaumen zu pflücken?«
    »Das mache ich immer. Jedes Jahr. Ich tat das schon, als der alte Mr. Somerset noch dort wohnte, und als dann die Hathalls kamen, da sagten sie auch, ich könnte die Pflaumen haben. Ich mache Marmelade daraus.«
    Einen flüchtigen Augenblick lang sah er Nancy Lake im Geiste vor sich, wie sie in der sonnendurchfluteten Küche stand und in einem Topf voller goldener Früchte rührte. Er roch förmlich den Duft, er sah ihr Gesicht, sah, wie sie den Finger hineintauchte und ihn an die vollen, roten Lippen führte. Die Vision drohte sich zu einem Wunschtraum auszuwachsen. Er schüttelte sie ab. »Wann sind Sie dort hingegangen?«
    Sein barscher Tonfall ließ ihre Augenbrauen in die Höhe fahren. »Ich rief Angela morgens um neun Uhr an und fragte, ob ich zum Pflücken kommen könne. Ich hatte gesehen, daß sie bereits abfielen. Es schien ihr recht zu sein, sie klang ganz verbindlich – für ihre Verhältnisse. Sie war keine sehr freundliche Person, wie Sie wissen.«
    »Nein, das weiß ich nicht. Ich hoffe, Sie erzählen es mir.«
    Sie machte eine kleine, hilflose Geste mit den Händen. »Sie sagte, ich solle um halb eins kommen. Ich pflückte die Pflaumen, und sie bot mir eine Tasse Kaffee an. Ich glaube, sie hat mich nur hereingebeten, um mir zu zeigen, wie hübsch das Haus aussah.«
    »Warum? Sah es nicht immer hübsch aus?«
    »O Gott, nein. Mir ist es zwar egal, das war ja ihre Sache. Ich habe selbst nicht viel für Hausarbeit übrig, aber Angelas Haus war sonst ein ziemlicher Schweinestall. Jedenfalls war es das im letzten März, als ich das letzte Mal dort drin gewesen bin. Sie erzählte mir, sie habe saubergemacht, um Roberts Mutter zu beeindrucken.«
    Wexford nickte. Er mußte seine ganze Willenskraft zusammennehmen, um die Vernehmung auf diese unpersönliche Art fortzuführen, denn sie übte einen Zauber aus, eine magische Mischung aus anmutiger Weiblichkeit und starker Sexualität. Aber die Willensanstrengung mußte sein. »Hat sie Ihnen erzählt, ob sie noch anderen Besuch erwartete, Mrs. Lake?«
    »Nein, sie erwähnte, sie wolle mit dem Wagen weg, aber wohin, das hat sie nicht gesagt.« Nancy Lake lehnte sich mit ernsthafter Miene vorwärts über den Tisch und brachte

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