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Der Kuß der Schlange

Der Kuß der Schlange

Titel: Der Kuß der Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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Bewußtsein seiner neuen, straffen Figur aufreckte, fiel ihm seine Frau ein. Ihm fiel ein, daß er nicht nur ein Kriminalbeamter, sondern ein Ehemann war, der sein Treuegelöbnis nicht vergessen durfte. Nancy Lake aber hatte ihm ihre Hand leicht auf den Arm gelegt und lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Sonnenschein draußen, auf die Autokolonne in der High Street, die sich auf den langen Weg zur Küste machte.
    »Genau das richtige Wetter für einen Tag an der See, nicht wahr?« meinte sie. Die Bemerkung klang sehnsüchtig, fast wie eine Einladung. »Was für eine Schande, daß Sie am Samstag arbeiten müssen.« Was für eine Schande, daß Arbeit und Konvention und Vernunft ihn davon abhielten, diese Frau zu seinem Wagen zu führen und mit ihr in irgendein ruhiges Hotel zu fahren. Champagner, Rosen, dachte er, und wieder diese Hand, die sich über den Tisch schöbe und warm in der seinen ruhte … »Und bald wird der Winter dasein«, sagte sie.
    So konnte sie es doch wohl nicht gemeint haben – doch nicht in diesem Doppelsinn? Daß der Winter bald dasein werde für sie beide, der das Fleisch welken und das Blut erkalten ließe …? »Ich möchte Sie nicht länger aufhalten«, sagte er mit eisiger Stimme.
    Sie lachte, ganz und gar nicht gekränkt, sondern nahm ihre Hand von seinem Arm und schritt zur Tür. »Sie könnten wenigstens sagen, es war nett von mir, zu kommen.«
    »Das war es auch. Sehr im Sinne des Gemeinwohls. Guten Morgen, Mrs. Lake.«
    »Guten Morgen, Mr. Wexford. Sie müssen bald zum Tee zu mir kommen, um die Mirakelmarmelade zu probieren.«
    Er ließ sie von einem Beamten hinausbegleiten. Anstatt sich wieder an seinen Schreibtisch zu setzen, trat er ans Fenster und blickte hinaus. Und da war sie schon, schritt über den Vorplatz mit der Zuversichtlichkeit der Jugend, so, als gehöre die Welt ihr. Er kam nicht auf die Idee, daß sie sich umdrehen und hinauf schauen könnte, aber sie tat es, ganz plötzlich, als ob ihrer beider Gedanken kommuniziert und diesen schnellen Blick ausgelöst hätten. Sie winkte. Sie streckte den Arm hoch aus und winkte mit der Hand. Als ob sie einander schon ein Leben lang kannten, so herzlich und frei und intim war diese Geste, als ob sie sich soeben nach einer von vielen köstlichen Begegnungen trennten, deren Süße nicht durch ihre Häufigkeit vermindert wurde.
    Auch er hob den Arm, und es wurde eine Art Salut daraus. Und dann, als sie in der Menge der samstäglichen Einkaufsbummler verschwunden war, ging er ebenfalls nach unten, um Burden zu suchen und mit ihm zum Mittagessen zu gehen.
    Das Café Carousel gegenüber dem Polizeipräsidium war am Samstag zur Lunchzeit immer sehr voll, aber wenigstens war die Musikbox still. Der richtige Lärm würde erst losgehen, wenn gegen sechs die Halbwüchsigen kamen. Burden saß an dem Ecktisch, der immer für sie reserviert war, und als Wexford darauf zuging, kam ihm der Inhaber, ein freundlich-bescheidener Italiener, ehrerbietig und unter Respektbezeugungen entgegen.
    »Meine Spezialität heute für Sie, Chief Inspector? Die Leber mit Speck kann ich sehr empfehlen.«
    »Sehr schön, Antonio, aber keine dieser Fertigkartoffeln, eh? Und kein Natriumglutamat.«
    Antonio blickte verständnislos drein. »So etwas habe ich nicht auf der Speisekarte, Mr. Wexford.«
    »Nein, aber drin ist es trotzdem, sozusagen als Geheimagent. Ich hoffe, Sie hatten hier keine weiteren ›speedy Sessions‹ in letzter Zeit?«
    »Nein, Sir, und das haben wir Ihnen zu verdanken.«
    Diese Anspielung bezog sich auf einen Schabernack, den sich ein paar Wochen zuvor einer von Antonios jugendlichen Teilzeitangestellten geleistet hatte. Genervt durch die Biederheit der Gäste, hatte dieser Junge einhundert Amphetamintabletten in den Glasbehälter mit dem sprudelnden Orangensaft und den darauf schwimmenden Plastikorangen gekippt, und das Resultat war ein fröhlich ausschweifender Tumult gewesen. Ein bis dato wohlanständiger Geschäftsmann hatte tatsächlich auf dem Tisch getanzt. Wexford, der rein zufällig vorbeigekommen war und sich wegen seiner Diät selbst einen Orangensaft bestellt hatte, lokalisierte die Quelle dieser überschäumenden Heiterkeit und zugleich auch den Spaßvogel. Bei der Erinnerung daran lachte er los.
    »Was ist denn so komisch?« erkundigte sich Burden mürrisch. »Oder hat diese Mrs. Lake Sie so aufgeheitert?« Als Wexford zu lachen aufhörte, aber nicht antwortete, berichtete er: »Martin hat im Gemeindehaus Posten bezogen und dort

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