Der Kuß der Schlange
eine Art Vernehmungs- und Informationszentrale eingerichtet. Die Öffentlichkeit ist unterrichtet worden in der Hoffnung, daß jeder, der Angela am Freitag nachmittag gesehen hat, nun kommt und es uns erzählt. Und wenn sie selbst das Haus nicht verlassen hat, dann besteht noch die Möglichkeit, daß ihr Besucher gesehen worden ist.«
»Sie hat das Haus verlassen«, sagte Wexford. »Sie hat Mrs. Lake erzählt, sie würde mit dem Wagen wegfahren. Ich frage mich, wer die Dame mit der L-förmigen Narbe ist, Mike. Mrs. Lake ist es nicht, und Mrs. Lake sagt, Angela hätte keine Putzfrau und übrigens auch keine Freundinnen gehabt.«
»Und wer ist der Mann, der die Innenseite der Schranktür angefaßt hat?«
Die Ankunft von Leber und Speck und von Burdens Spaghetti Bolognese ließ sie für ein paar Minuten verstummen. Wexford trank seinen Orangensaft und überlegte wehmütig, welch ein Spaß es doch wäre, wenn auch diese Tankfüllung ein bißchen aufgepeppt wäre und Burden plötzlich enthemmt und ausgelassen würde. Aber der Inspector, ein wenig naserümpfend ins Essen vertieft, trug die resignierte Miene dessen zur Schau, der sein Wochenende der Pflicht geopfert hat. Die tiefen Furchen, die sich von seinen Nasenflügeln zu den Mundwinkeln herabzogen, verschärften sich noch, als er jetzt sagte:
»Ich wollte mit meinen Kindern an die See fahren.«
Wexford dachte an Nancy Lake, die sicherlich in einem Badeanzug gut aussah. Aber er verscheuchte die Vorstellung, ehe sie sich zu einem farbigen, dreidimensionalen Bild entwickelte. »Mike, in diesem Stadium eines Falles fragen wir uns doch gewöhnlich gegenseitig, ob uns irgendwas Merkwürdiges aufgefallen ist, irgendwelche Diskrepanzen oder offenkundige Unwahrheiten. Haben Sie irgend so was bemerkt?«
»Nein, könnte ich nicht behaupten, abgesehen von dem Mangel an Abdrücken.«
»Sie hatte einen totalen Hausputz veranstaltet, um die alte Frau zu beeindrucken, obwohl ich zugebe, es ist schon komisch, daß sie anscheinend alles noch mal abgewischt hat, ehe sie ihre Autotour unternahm. Mrs. Lake hat ungefähr um eins bei ihr Kaffee getrunken, und Mrs. Lakes Spuren waren nirgends zu finden. Aber es gibt noch etwas, und das kommt mir noch viel merkwürdiger vor, nämlich die Art, wie Hathall sich benahm, als er gestern abend nach Hause kam.«
Burden schob seinen leeren Teller weg, betrachtete die Speisekarte, verwarf aber den Gedanken an etwas Süßes und signalisierte Antonio, daß er Kaffee wolle. »Was war so merkwürdig?« fragte er.
»Hathall und seine Frau waren seit drei Jahren verheiratet. Während dieser Zeit hat die alte Frau ihre Schwiegertochter nur einmal gesehen, und dabei hat es offenbar beträchtliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden gegeben. Anscheinend hat das damit zu tun, daß Angela sich in Hathalls erste Ehe gedrängt hat. Wie dem auch sei – darüber werde ich schon noch mehr erfahren –, Angela und ihre Schwiegermutter waren sich spinnefeind. Immerhin muß es doch zu einer Art Waffenruhe gekommen sein, denn die alte Dame ließ sich zu dem Wochenendbesuch überreden, und Angela veranstaltete ihrerseits einen Hausputz, der weit über ihren üblichen Standard hinausging. Nun sollte also Angela sie am Bahnhof abholen, aber sie tauchte nicht auf. Hathall sagt, sie sei schüchtern und nervös, Mrs. Lake sagt, sie sei schroff und unfreundlich gewesen. Was mußte Hathall also vermuten, als seine Frau nicht am Bahnhof war?«
»Daß sie kalte Füße gekriegt hatte. Daß sie Angst hatte, ihrer Schwiegermutter gegenüberzutreten.«
»Genau. Aber was passiert, als er nach Hause kommt? Er kann Angela nicht finden. Er sucht unten nach ihr, und ebenso im Garten. Nach oben geht er überhaupt nicht. Dabei muß ihm doch Angelas Nervosität bewußt und ihm klar gewesen sein, daß sich eine nervöse Frau nicht im Garten verkriecht, sondern in ihrem Schlafzimmer. Aber statt oben nach ihr zu suchen, schickt er seine Mutter hinauf, genau die Person, vor der Angela sich fürchtete. Ihm muß doch gedämmert haben, daß dieses schüchterne und nervöse Mädchen, dem er angeblich so ergeben war, sich in ihr Schlafzimmer geflüchtet hat. Aber statt raufzugehen, um sie zu beruhigen und sie zu bewegen, mit ihm an der Seite seiner Mutter gegenüberzutreten, geht er nach draußen, in die Garage. Das ist doch wirklich sehr merkwürdig, Mike.«
Burden nickte. »Trinken Sie Ihren Kaffee aus«, sagte er. »Hathall kommt doch um drei. Vielleicht gibt der Ihnen eine
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