Der Kuß der Schlange
in einem Schlafzimmer – nicht Angelas Schlafzimmer. Und dann war da noch ein Abdruck, ein einziger, von dieser anderen Frau. Auch das ein voller Handabdruck, von der rechten Hand, sehr deutlich. Er zeigt eine kleine, L-förmige Narbe am Zeigefinger, und gefunden wurde er am Rand der Badewanne.«
»Hmm«, machte Wexford, und weil der Ton ihn an Mrs. Hathall erinnerte, änderte er ihn in »Huh« ab. Nachdenklich schwieg er. »Diese Abdrücke haben wir nicht im Archiv?«
»Weiß ich noch nicht. Lassen Sie denen ein bißchen Zeit.«
»Ich bin schon wie Hathall. Gibt’s sonst noch was?«
»Ein paar kräftige, lange, dunkle Haare, drei Stück, auf dem Fußboden des Badezimmers. Angelas sind es nicht. Ihre waren feiner – ihre fanden sich zum Beispiel ausschließlich in der Haarbürste auf dem Frisiertisch.«
»Männer- oder Frauenhaare?«
»Unmöglich festzustellen. Sie wissen ja selber, mit was für Mähnen die meisten jungen Kerle heutzutage herumlaufen.«
Burden fuhr sich über das eigene kurzgeschnittene Haar und nahm die Brille ab. »Einen Obduktionsbefund bekommen wir nicht vor heute abend.«
»Okay. Wir müssen also den Wagen finden und jemand, der sie damit fahren sah. Und wenn wir Glück haben auch jemanden, der sie und ihren Fang darin hat zurückkommen sehen – wenn es sich überhaupt so abgespielt hat. Außerdem müssen wir ihre Freunde finden. Ein paar Freunde muß sie doch gehabt haben.«
Sie fuhren mit dem Lift hinunter und durchquerten die Halle mit dem Schachbrettboden. Während Burden stehenblieb, um ein paar Worte mit dem Beamten vom Dienst zu wechseln, ging Wexford auf die Schwingtür zu, die zur Außentreppe und zum Vorplatz führte. Eine Frau kam gerade diese Stufen herauf. Sie bewegte sich mit dem Selbstgefühl eines Menschen, der niemals Ablehnung erfahren hat. Wexford hielt ihr den rechten Türflügel auf, und als sie auf gleicher Höhe mit ihm war, blieb sie stehen und blickte ihm voll ins Gesicht.
Sie war nicht mehr jung, schätzungsweise Ende Vierzig, aber schon auf den ersten Blick merkte man, daß sie zu jenen seltenen Kreaturen gehörte, denen die Zeit wenig anhaben, ihnen weder die Schönheit noch ihre Vitalität nehmen kann. Jede der feinen Linien in ihrem Gesicht schien von Lachen und übermütigem Witz geprägt, und ohnehin gab es nur wenige um die großen, hellblauen und überraschend jungen Augen herum. Sie lächelte ihn an, mit einem Lächeln, das das Herz eines jeden Mannes Kobolz schlagen ließ, und sie sagte:
»Guten Morgen. Mein Name ist Nancy Lake. Ich möchte mit einem Polizeibeamten sprechen, dem ranghöchsten – mit jemand Wichtigem. Sind Sie hier ein wichtiger Mann?«
»Ich glaube, ich bin wichtig genug«, erwiderte Wexford.
Sie blickte ihn von oben bis unten an, wie ihn seit zwanzig Jahren keine Frau mehr angesehen hatte. Das Lächeln wurde nachdenklich, feingeschwungene Brauen schoben sich in die Höhe.
»Ich glaube, das stimmt«, sagte sie, und während sie eintrat, fuhr sie fort: »Aber Spaß beiseite. Ich bin hergekommen, weil ich wahrscheinlich als letzte Angela Hathall lebend gesehen habe.«
4
Wenn eine schöne Frau altert, so besteht die Reaktion eines Mannes gewöhnlich in der Überlegung, wie entzückend sie einmal gewesen sein muß. Bei Nancy Lake war es anders. Um sie lag ein Flair des ausschließlichen Hier und Jetzt. Wenn man mit ihr zusammen war, dachte man ebensowenig an ihre Jugend oder ihr künftiges Greisenalter, wie man an den Frühling oder an Weihnachten denkt, während man den Spätsommer genießt. Sie gehörte zu der Jahreszeit, die gerade jetzt herrschte, sie war eine Erntezeit-Frau, die an Weinlese-Feste, an reifende Frucht und warme Nächte denken ließ. Aber diese Gedanken kamen Wexford erst viel später. Während er sie in sein Büro führte, war ihm lediglich bewußt, wie ungeheuer erfreulich diese Abwechslung war zwischen Mord und Totschlag, widerspenstigen Zeugen, Fingerabdrücken und verschwundenen Autos. Außerdem war es nicht einfach bloß eine Abwechslung. Glücklich der Mann, der Arbeit und Vergnügen kombinieren kann …
»Was für ein hübscher Raum«, sagte sie. Ihre Stimme war tief und angenehm und lebendig. »Ich dachte immer, Polizeireviere seien braun und düster und an den Wänden Fotos schlimmer Verbrecher, die alle wegen Banküberfällen gesucht werden.« Sie betrachtete mit ehrlichem Wohlgefallen seinen Teppich, seine gelben Stühle, seinen Rosenholzschreibtisch. »Dies ist wirklich geschmackvoll. Und die
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