Der Kuß der Schlange
nicht im Haus sein. Ja, das habe ich gedacht. Ich dachte, sie müßte mit dem Wagen losgefahren sein, und wir hätten uns verpaßt, weil sie vielleicht einen anderen Weg genommen hatte.«
Aber ein anderer Weg, das hätte bedeutet, einen guten Kilometer die Wool Lane hinunterzufahren bis zur Kreuzung von der Pomfret und der Myringham Road, dann diese Straße weiter bis Pomfret oder Stowerton, ehe man wieder einbiegen konnte in Richtung Bahnhof Kingsmarkham, eine Fahrt von mindestens sechs Kilometern anstelle eines guten halben. Aber Wexford äußerte sich dazu nicht weiter. Eine Eigenheit im Verhalten des Mannes war ihm plötzlich aufgefallen, und er wollte allein sein, um darüber nachzudenken, um zu analysieren, ob das etwas Signifikantes war oder lediglich Ausdruck eines verschrobenen Charakters.
Als Hathall aufstand, um zu gehen, meinte er: »Darf ich Sie noch etwas fragen?«
»Selbstverständlich.«
Aber Hathall zögerte, als gelte es, eine brennende Frage noch hinauszuschieben oder sie durch eine weniger brisante zu kaschieren. »Haben Sie schon irgendwas über … ich meine, von der Pathologie gehört?«
»Bis jetzt noch nicht, Mr. Hathall.«
Das rote Gesicht spannte sich. »Und diese Fingerabdrücke, haben die Ihnen schon irgendwelche Hinweise geliefert?«
»Sehr wenige, soweit wir sagen können.«
»Das dauert alles ja sehr lange. Aber ich verstehe ja nichts davon. Bitte, halten Sie mich auf dem laufenden.«
Er sagte das in einem Befehlston wie der Chef einer Firma, der mit einem Untergebenen spricht. »Wenn wir jemanden verhaftet haben«, meinte Wexford, »dann werden wir Sie darüber natürlich informieren.«
»Alles schön und gut, aber jeder Zeitungsleser wird dann auch darüber informiert sein. Ich wüßte gern Bescheid über diese …« Er verschluckte den Rest des Satzes, als habe er etwas sagen wollen, das man klugerweise lieber unerwähnt ließ. »Ich möchte Bescheid wissen über den Bericht der Pathologie.«
»Ich werde mich morgen bei Ihnen melden, Mr. Hathall«, sagte Wexford. »In der Zwischenzeit versuchen Sie bitte, ruhig zu bleiben und so viel wie möglich zu schlafen.«
Hathall verließ das Büro und senkte beim Hinausgehen wieder den Kopf. Wexford konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß er ihn nur gesenkt hatte, um den jungen Beamten zu beeindrucken, der ihn hinausbegleitete. Und doch schien der Schmerz des Mannes echt. Aber Schmerz ist, wie Wexford wußte, viel leichter zu simulieren als Glück. Es genügt schon, mit erstickter Stimme zu sprechen, gelegentlich in Wut und dann wieder in Klagen auszubrechen. Besonders ein Mann wie Hathall, der sich ohnehin von der Welt schlecht behandelt fühlte und der außerdem unter Verfolgungswahn litt, würde bestimmt keine Schwierigkeiten haben, sein normales Verhalten ein wenig zu verstärken.
Aber warum hatte es bei ihm keinerlei Anzeichen von Schock gegeben? Warum hatte er nicht mit jenem ungläubigen Entsetzen reagiert, wie es typischerweise jemand tut, dessen Frau oder Mann oder Kind eines gewaltsamen Todes gestorben ist? Wexford dachte an seine drei Unterredungen mit Hathall zurück, aber er konnte sich in keinem Fall an diese charakteristische Verleugnung einer grausamen Realität entsinnen. Und er erinnerte sich an vergleichbare Situationen, an betroffene Ehemänner, die seine Fragen mit Ausrufen unterbrochen hatten, das könne nicht wahr sein, an Witwen, die laut beteuerten, das könne doch ihnen nicht passieren, das könne nur ein Traum sein, aus dem sie bald erwachen würden. Eine solche Ungläubigkeit schaltet vorübergehend den Schmerz aus. Manchmal vergehen ganze Tage, bevor die Tatsachen erfaßt, geschweige denn innerlich akzeptiert werden können. Hathall jedoch hatte es sofort erfaßt und akzeptiert. Und irgendwie kam es Wexford vor, während er nachdenklich dasaß und auf den gerichtsmedizinischen Befund wartete, als habe er schon akzeptiert, noch ehe er durch seine eigene Haustür getreten war.
»Sie wurde also mit einer goldenen Halskette erdrosselt«, sagte Burden. »Muß ein verdammt reißfestes Exemplar gewesen sein.«
Wexford blickte von dem Bericht auf und meinte: »Vielleicht war es die von Hathalls Liste. Man hat ein paar Partikel der Vergoldung in ihrer Haut eingebettet gefunden. Keine Hautpartikel ihres Mörders unter den Fingernägeln, also hat vermutlich kein Kampf stattgefunden. Todeszeit zwischen ein Uhr dreißig und drei Uhr dreißig. Gut, wir wissen inzwischen, daß es nicht ein Uhr dreißig war,
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