Der Kuß der Schlange
denn um die Zeit hat Mrs. Lake sie verlassen. Sie scheint eine gesunde Frau gewesen zu sein, sie war nicht schwanger, und es liegen auch keinerlei Anzeichen für eine Vergewaltigung vor.«
Er gab Burden einen gedrängten Bericht dessen, was Robert Hathall gesagt hatte. »Die ganze Sache sieht doch jetzt ziemlich merkwürdig aus, oder?«
»Soll das heißen, Sie glauben, daß Hathall uns etwas verschweigt?«
»Ich weiß, Mike, er hat sie nicht umgebracht. Hätte er gar nicht gekonnt. Als sie starb, war er in seiner Firma, bei diesem Marcus Flower, zusammen mit Linda Soundso und wer weiß wie vielen anderen Leuten. Und ich wüßte auch kein Motiv. Er scheint sie wirklich gerngehabt zu haben, wenn schon sonst niemand das tat. Aber warum ist er gestern abend nicht nach oben gegangen, warum ist er nicht gelähmt vom Schock, und warum ist er so versessen auf Fingerabdrücke?«
»Der Mörder muß nach der Tat noch dageblieben sein, um sämtliche Abdrücke zu beseitigen, wissen Sie. Er muß ja schließlich Gegenstände berührt haben, im Schlafzimmer und auch in anderen Räumen, und dann hat er wohl vergessen, was alles er angefaßt hatte, und so hat er sicherheitshalber einen Großputz veranstaltet. Sonst hätten doch Angelas und Mrs. Lakes Fingerabdrücke im Wohnzimmer sein müssen. Spricht das nicht gegen Vorsätzlichkeit?«
»Wahrscheinlich. Und ich denke, Sie haben recht. Ich kann einfach nicht glauben, daß Angela so eine Sauberkeitsfanatikerin war oder solche Angst vor ihrer Schwiegermutter hatte, daß sie das Wohnzimmer, nachdem Mrs. Lake gegangen war, noch einmal ebenso gründlich gewienert hat wie vor deren Besuch.«
»Trotzdem ist es merkwürdig, daß er sich all die Mühe gemacht und dann doch Fingerspuren auf der Innenseite einer Schranktür zurückgelassen hat, und zwar eines Schrankes in einem Abstellraum, der anscheinend nie benutzt wurde.«
»Wenn er das getan hat, Mike«, wandte Wexford ein, »wenn er es getan hat. Ich glaube, wir werden feststellen, daß diese Abdrücke zu einem Mr. Mark Somerset gehören, dem Eigentümer von Bury Cottage. Wir wollen mal sehen, wo der in Myringham wohnt, und dann fahren wir besser gleich hin.«
6
Die Universitätsstadt Myringham liegt knappe zwanzig Kilometer von Kingsmarkham entfernt. Sie rühmt sich eines Museums, eines Kastells mit überwachsener Außenmauer und der besterhaltenen Überreste einer römischen Villa in Großbritannien. Und wenn auch zwischen den Universitätsgebäuden und dem Bahnhof ein neues Zentrum entstanden ist, ein Bezirk aus Hochhäusern und Einkaufszeilen und vielstöckigen Parkhäusern, so hat man all diesen Beton und roten Backstein doch wohlweislich abgegrenzt von der Altstadt, die unverschandelt an den Ufern des Kingsbrook steht.
Hier gibt es enge Gassen und gewundene Durchgänge, die den Besucher an Gemälde von Jacob Vrel erinnern. Die Häuser sind sehr alt, einige – aus braunem Backstein und wurmstichigem graubraunen Holz – noch vor den Rosenkriegen gebaut oder gar, wie es heißt, noch vor Agincourt. Nicht alle werden von ihren Besitzern oder von Dauermietern bewohnt, manche sind in einen so trostlos unreparablen Zustand, einen so traurigen Verfall geraten, daß ihre Eigentümer es sich nicht leisten können, sie in Ordnung zu bringen. Obdachlose und Hausbesetzer haben sich darin breitgemacht, geschützt vor der Polizei durch ihr altes Gewohnheitsrecht, sicher vor der Vertreibung, weil ihre ›Vermieter‹ einerseits durch das Gesetz gehindert werden, ihr Haus abzureißen, andererseits durch Geldmangel, es wieder instand zu setzen.
Aber solche Art Häuser bilden nur einen kleinen Teil der Altstadt. Mark Somerset wohnte im hübscheren Teil, in einem der alten Häuser am Fluß. In den Zeiten, da England noch katholisch gewesen war, war es das Haus eines Priesters gewesen, und in einer der Gartenmauern war noch ein schmales Fenster mit wunderschöner Glasmalerei, denn die Mauer gehörte gleichzeitig zur St.-Lukas-Kirche. Die Katholiken von Myringham besaßen jetzt eine neue Kirche im neueren Teil der Stadt, und das Pfarrhaus war ein modernes Gebäude. Hier aber drängten sich noch die alten braunen Mauern um die Kirche und die Mühle, hier wehte noch der Hauch des 15. Jahrhunderts.
Kein Hauch des 15. Jahrhunderts wehte jedoch um Mark Somerset. Er war ein athletisch wirkender Mann in den Fünfzigern, trug gepflegte, schwarze Jeans und ein T-Shirt, und nur die Linien um seine hellen, blauen Augen und die Venen an seinen starken
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