Der Kuß der Schlange
Händen verrieten Wexford sein Alter. Der Mann hatte einen flachen Bauch, eine muskulöse Brust, und obendrein hatten sich seine Haare noch nicht gelichtet, deren Goldton von einst inzwischen einen Silberschimmer bekommen hatten.
»Ach, die Bullen«, sagte er, wobei sein Lächeln und sein angenehmer Ton die Begrüßung nicht ungehörig wirken ließ. »Ich dachte mir schon, daß Sie hier auftauchen würden.«
»Hätten wir lieber nicht auftauchen sollen, Mr. Somerset?«
»Weiß nicht, das müssen Sie entscheiden. Kommen Sie rein, aber bitte seien Sie in der Diele so leise wie möglich, ja? Meine Frau ist heute morgen aus dem Krankenhaus gekommen, und sie ist gerade eben erst eingeschlafen.«
»Doch nichts Ernstes, hoffe ich?« Wexford fand Burdens Frage reichlich einfältig und auch überflüssig.
Somerset lächelte. Es war ein Lächeln, in dem traurige Erfahrungen, geduldiges Ausharren und eine Spur Verächtlichkeit mitschwangen. Fast flüsternd sagte er: »Sie ist seit Jahren ein Pflegefall. Aber Sie sind wohl nicht gekommen, um darüber zu reden. Bitte hier hinein.«
Das Zimmer hatte eine Balkendecke und holzverkleidete Wände. Eine offene, zweiflügelige Glastür – modern, aber gelungen – führte in einen kleinen Garten mit Steinwegen, der rückwärtig durch die Bäume am Flußufer begrenzt wurde, und das Blattwerk dieser Bäume hob sich wie schwarze Spitze gegen den bernsteinfarbenen Schimmer der untergehenden Sonne ab. Neben der Tür stand ein niedriger Tisch, auf dem ein Eisbehälter mit einer Flasche Rheinwein stand.
»Ich bin Sportlehrer an der Universität«, sagte Somerset. »Und der Samstagabend ist die einzige Zeit, wo ich mir einen Schluck genehmige. Möchten Sie Wein?«
Wexford und Burden nickten, und Somerset holte drei Gläser aus einer Vitrine. Der Rheinwein war eiskalt, würzig und trocken.
»Wirklich sehr freundlich von Ihnen, Mr. Somerset«, sagte Wexford. »Sie entwaffnen mich geradezu. Jetzt traue ich mich kaum noch, Sie zu fragen, ob wir Ihre Fingerabdrücke abnehmen dürfen.«
Somerset lachte. »Aber natürlich. Ich vermute, Sie haben in Bury Cottage die Abdrücke irgendeines großen Unbekannten gefunden, stimmt’s? Das sind dann wahrscheinlich meine, obwohl ich schon seit drei Jahren nicht mehr dort gewesen bin. Die von meinem Vater können es nicht sein. Ich habe das ganze Haus renovieren lassen, nachdem er gestorben ist.« Mit herausfordernder Unschuld spreizte er seine kräftigen, von Arbeit breit gewordenen Hände.
»Wie ich gehört habe, kamen Sie mit Ihrer Kusine nicht besonders gut aus?«
»Na ja«, meinte Somerset. »Also, ehe Sie mich hier vernehmen und mir eine Menge zeitraubender Fragen stellen, ist es wohl besser, ich erzähle Ihnen, was ich über meine Kusine weiß, und liefere Ihnen eine kurze Geschichte unserer Beziehung, ja? Dann können Sie mir hinterher immer noch Fragen stellen.«
Wexford sagte: »Das ist genau das, was wir wollen.«
»Gut.« Somerset hatte die knappe, bündige Art eines guten Lehrers. »Man soll zwar über Tote nicht schlecht reden, aber ich werde in diesem Punkt nicht zimperlich sein, einverstanden? Nicht, daß ich besonders schlecht über Angela reden wollte. Sie tat mir leid. Ich fand, sie war einfach saft- und kraftlos, und ich habe für solche Menschen nicht viel übrig. Ich traf sie zum erstenmal vor fünf Jahren, als sie von Australien herüberkam, ich hatte sie vorher nie gesehen. Aber sie war natürlich meine Kusine, die Tochter vom verstorbenen Bruder meines Vaters. Sie brauchen also nicht Verdacht zu schöpfen, daß sie womöglich eine Schwindlerin gewesen ist.«
»Sie haben zu viele Kriminalromane gelesen, Mr. Somerset.«
»Möglich.« Somerset grinste und fuhr fort: »Sie suchte mich auf, weil ich und mein Vater die einzigen Verwandten waren, die sie hier hatte, und sie sich in London einsam fühlte. Jedenfalls behauptete sie das. Ich nehme an, sie wollte sehen, ob sie irgendwo was für sich herausschlagen konnte. Sie war ein furchtbar habgieriges Mädchen, die arme Angela. Damals kannte sie Robert noch nicht. Als sie ihn kennenlernte, kam sie nicht mehr hierher, und ich hörte nichts mehr von ihr, bis die beiden heiraten wollten und keine Bleibe fanden. Ich hatte ihr geschrieben und ihr den Tod meines Vaters mitgeteilt – worauf sie, nebenbei bemerkt, nicht antwortete –, und nun wollte sie wissen, ob ich ihr und Robert nicht Bury Cottage überlassen könnte.
Na ja, eigentlich hatte ich es verkaufen wollen, aber ich
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